Erinnerungen an Günter Wand
NDR: Wie war denn das Verhältnis zwischen Wand und dem Orchester außerhalb der Proben, d. h. auf menschlicher Ebene?
Heinzmann: Nun ja, es ist natürlich nicht so gewesen, dass wir ein "kameradschaftliches" Verhältnis zu ihm gehabt hätten. Man muss es schon einmal deutlich sagen: Er war das Sonnensystem und wir die Monde, die um ihn kreisten. Alle mussten machen, was er wollte. Vor allem im hohen Alter war er zu keinerlei Zugeständnissen bereit.
Andererseits aber war er durchaus kollegial! In den Probenpausen ist er oft zu den einzelnen Musikern gekommen und hat sie begrüßt – und er hat uns alle als "Kollegen" angesprochen.
Donandt: Autoritär war er sicherlich, aber doch in dem Sinne, dass er dazugehört hat. Man hatte – im Gegensatz zu manchen anderen Dirigenten – nicht den Eindruck, dass er sich in seiner eigenen Sphäre, abseits vom Orchester befunden hätte.
Was bei der Interpretation der deutschen romantischen Musik immer wieder fehlt, ist das Wort 'heimlich'. Heimlich seine Liebe erklären – nicht wie das heute so ist. Günter Wand zu Brahms' Zweiter Sinfonie, Ende des 1. Satzes
Heinzmann: Ja, er hat sich auf jeden Fall mit dem Orchester identifiziert. Wenn er einmal die Qualität eines Musikers entdeckt hatte, war er sehr solidarisch. Er hat – übrigens auch bei den Solisten – gern die vertrauten Gesichter um sich gehabt. Jüngere Kollegen dagegen betrachtete er erstmal mit Argusaugen, bis er sie anerkannt hatte …
Donandt: Daran kann ich mich auch noch gut erinnern! Wie ich da am letzten Basspult stand und Wand mich ganz genau beobachtet hat …
NDR: Haben Sie die Probenatmosphäre unter Wand eher als entspannt oder als unangenehm empfunden?
Donandt: Die Proben waren erstmal einfach anstrengend, weil Wand immer eine Woche lang probte, mehr als andere Dirigenten!
Heinzmann: Wenn wir von Montag bis Freitag probten, sprachen wir immer vom berühmten Donnerstag – das war der schlimmste Tag, weil Wand hier sehr ungeduldig werden konnte. Das hat nicht selten zu Spannungen geführt …
Am Freitag danach hat er dann vieles schon durchlaufen lassen und bei der Generalprobe am Samstag hat Wand meist seine Brille abgesetzt, die Partitur zugeschlagen und war hinterher im Großen und Ganzen doch sehr glücklich …
Zu Wands Probenarbeit im Allgemeinen vielleicht noch ein kleines, viel sagendes Beispiel: Wir haben einmal einen Test mit der Stoppuhr gemacht. Die Probe dauerte von 9.30 bis 15 Uhr – und wir haben insgesamt 26 Minuten gespielt, den Rest (abzüglich der Pausen) hat Wand geredet!
Als würde ein Betrunkener übers Podium schwanken. Das ist die Wirkung. Natürlich nicht zu sehr betrunken. Günter Wand zu Tschaikowskys Fünfter Sinfonie, Fagottstelle im 2. Satz
Donandt: Auch die ständigen Wiederholungen kleinster Stellen konnten schon sehr anstrengend sein. Oft hat er, nachdem er einen Satz angefangen hatte zu probieren, sofort abgebrochen, so dass man für sehr lange Zeit kaum über die ersten 20 Takte hinauskam … Er war schon sehr auf Details versessen!
Dabei fand ich es immer wieder faszinierend, dass nach solch sorgfältiger Probenarbeit die Gesamtschau auf das Werk in den Konzerten überhaupt nicht verloren ging. Wand war ja ein Meister darin, die Spannung zu halten und den großen Bogen hörbar zu machen. Ohne sein ungeheures Künstlertum wäre das nicht möglich gewesen – es gehörte eben einfach mehr als bloßes Handwerk dazu, auch wenn Wand, der immer meinte, alles sei belegbar, das wahrscheinlich selbst nicht zugegeben hätte.
NDR: … und diese künstlerische Suggestionskraft blieb ihm bis ins hohe Alter erhalten …
Heinzmann: Unbedingt! Er hat ja z. B. auch bis zum Schluss im Stehen dirigiert und fand es immer furchtbar zu sehen, wenn Dirigenten (wie Karajan in seinen letzten Jahren) halb im Sitzen dirigieren mussten. "Sagen Sie es mir, wenn es mit mir so weit kommt", hat er uns daher gebeten … Er konnte aber ohnehin unglaublich viel nur mit den Augen machen!
Donandt: Es ist wirklich faszinierend, dass er selbst noch als fast 90-Jähriger in den Konzerten ein unvorstellbar suggestiver Dirigent war. Seine letzten Jahre bleiben mir in lebhafter Erinnerung. Niemals werde ich etwa eines der letzten Konzerte vergessen, jenes in der Royal Albert Hall bei den BBC Proms vor restlos ausverkauftem Saal: Die Ausstrahlung, die dieser gebrechliche, alte Mann da vorne hatte – das war überwältigend!
Ich schäme mich, von Ihnen hier Emotionen zu fordern oder herumzuzappeln. Spielen Sie mit edlem Ausdruck. Günter Wand bei der Probe zur Ersten Sinfonie von Johannes Brahms
Das Gespräch führte Julius Heile.
- Teil 1: Teil 1: Ernsthaftigkeit und Demut
- Teil 2: Teil 2: Günter Wand und sein Orchester