"Ich muss als Musiker etwas zu geben haben"
24 Jahre gehörte er fest zur NDR Bigband, seit November 2020 ist Vladyslav Sendecki im Ruhestand - der sicherlich ein "Unruhestand" sein wird. 2011 interviewte Jessica Schlage den Pianisten.
Sie haben in den 1970er-Jahren in Krakau klassisches Klavier studiert und sind erst während Ihres Studiums zum Jazz gekommen. Warum so spät?
Vladyslav Sendecki: Begeistert vom Jazz war ich schon früher, aber damals hatte man in Polen vor dem Jazz genauso Angst, wie vor dem Rock'n'Roll - und damit war er verboten. Es hieß, Jazz zu spielen, sei nicht gut für die Gelenke eines klassischen Pianisten. So ein Quatsch! Also habe ich im Geheimen Jazz gespielt.
Als dann aus dem Ausland Preise und Auszeichnungen kamen, sagten auf einmal alle: "Oh, wie interessant, ein klassischer Pianist, der Jazz spielt!" Damals formierte sich gerade eine politische Gegenbewegung, und besonders bei der Jugend gab es eine große Sehnsucht nach freiem Denken.
Sie sind 1981 in die Schweiz gezogen. Vermutlich aber nicht ganz freiwillig?
Sendecki: Nicht freiwillig, nein. Ich hatte mich in Polen der Solidarność angeschlossen und daraufhin unglaublich viele Probleme bekommen. Drei Monate vor dem Abschluss wurde ich von der Universität geworfen und mein Pass wurde eingezogen. Mit inoffiziellen Papieren bin ich dann in die Schweiz ausgereist und habe dort mit anderen Musikern das "Polski Jazz Ensemble" gegründet. Bis 1986 haben wir mit unseren Gagen die Solidarność unterstützt.
Dann haben Sie fast zehn Jahre lang kaum noch selbst gespielt, sondern für eine Plattenfirma gearbeitet. Waren Sie des Musikmachens überdrüssig?
Sendecki: Ja! Wenn die Musik ein Beruf ist, muss man es jeden Tag machen. Irgendwann wird man müde, dauernd an sich zu arbeiten. Dann fahren sich Routinen ein und auf einmal steht einem das Wasser bis zum Hals. Ich würde eher Gärtner werden, als Musiker ohne Kreativität oder Lust an der Musik.
Es ist ja nicht so, dass die Musik ohne mich sterben würde. Als Musiker zu arbeiten, macht für mich nur so lange Sinn, wie ich etwas zu geben habe. Deshalb habe ich fast bis zu dem Zeitpunkt als ich zur NDR Bigband kam nicht gespielt, war oft auf Reisen und fand, dass viele alltägliche Sachen irgendwie wichtiger waren, als über Musik zu sprechen.
Seit 1996 sind Sie nun festes Mitglied der NDR Bigband. Was schätzen Sie an der Zusammenarbeit?
Sendecki: Es ist ein Mikrokosmos, der unglaublich bereichernd und fruchtbar, aber manchmal auch auslaugend sein kann. Die Arbeit in der NDR Bigband ist wie in einer Küche, in der ich jeden Tag diverse Sachen zubereiten muss - mit den Zutaten, die dann eben gerade da sind. Und dazu verwende ich immer die gleichen Töpfe. Manchmal klappt es, dass ich dabei ein Gericht koche, das schmeckt und manchmal nicht.
Worin liegt für Sie die Herausforderung?
Sendecki: Meine Funktion in der Band ist es, alles zu verbinden. Im Alltag bedeutet das, dass ich die Musik so weit verinnerlicht haben muss, dass ich sie organisch weiterentwickeln kann. Denn es gibt nur wenige Komponisten, die wirklich gut für Klavier schreiben können, obwohl sie es alle ein bisschen spielen. Und das kostet Energie! Aber dann kommt der nächste Musiker und bringt mich mit zwei Tönen wieder ganz weit nach oben und alles fließt wieder.
Das Interview führte Jessica Schlage.