Das Wichtigste ist die Energie
Im Interview erzählt Geir Lysne, der Chefdirigent der Bigband, was ihm bei seiner Arbeit besonders am Herzen liegt.
Sie hatten mit der NDR Bigband bereits seit über 15 Jahren immer mal wieder als Gastdirigent gearbeitet, bevor Sie 2016 den Posten als Chefdirigent der Band antraten. Was hat Sie an dieser Aufgabe gereizt?
Geir Lysne: Es sind einfach fantastische Musiker, das war natürlich ausschlaggebend! Ihr Spiel - sowohl im Ensemble, als auch bei Soloparts - ist auf musikalischem Top-Niveau.
Die Band ist außerdem voller interessanter Solisten, das inspiriert mich auch als Komponist: Wenn ich für die NDR Bigband schreibe, dann komponiere ich nicht einfach nur meine Musik für eine Bandbesetzung, sondern habe alle Solisten genau im Kopf und schreibe die Musik so, dass sie darin ihre Stärken zeigen und brillieren können. Deshalb war meine Antwort, als ich gefragt wurde, ob ich Chefdirigent der NDR Bigband werden wolle, ein uneingeschränktes "Ja!".
Das Repertoire der NDR Bigband ist ja ausgesprochen breit gefächert - und auch Sie selbst sind dafür bekannt, musikalisch mühelos zwischen Jazz, Klassik und Avantgarde wechseln zu können. Wie wichtig ist Ihnen diese Vielseitigkeit im Bezug auf Ihre Arbeit als Chefdirigent?
Lysne: Es stimmt schon, meine eigenen Präferenzen reichen von zeitgenössischer Kunstmusik bis Folk, wobei mir alles mit experimentellen Anteilen wahrscheinlich näher ist, als die ganz traditionelle Bigband-Literatur von Count Basie oder Duke Ellington. Aber das ist ja gerade das Tolle an der NDR Bigband: Es ist sehr wichtig, dass wir uns auch um die musikalische Bigband-Tradition kümmern - aber genauso wichtig ist es, dass wir Bigband-Musik neu erfinden!
Dabei kümmern mich musikalische Stilbezeichnungen wenig. In meinem Kopf sind keine bestimmten Genres, sondern eine bestimmte Besetzung: Wir haben vier Trompeten, vier Posaunen, fünf Saxofone und eine Rhythmusgruppe. Mit dieser Besetzung kann ich theoretisch alle möglichen musikalischen Stile abbilden. Und darum geht es: ausgehend, von dem, was da ist, zu experimentieren, Neues zu entdecken und Spaß zu haben. Musikalische Traditionen zu nutzen und neu zu interpretieren, um daraus unerwartete Programm und Konzerterlebnisse zu entwickeln - das ist mir sehr wichtig.
Dazu haben Sie ja auch ganz neue Konzertformate kreiert, die neben der akustischen Ebene auch noch multimediale Präsentationsformen beinhalten, beispielsweise das Programm "Watt About" in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Regisseur und Dokumentarfilmer Theo Janßen. Was reizt Sie daran, klassische Veranstaltungsformen aufzubrechen?
Lysne: Nun ja, ich werde selbst gerne überrascht! Bei einigen Produktionen kam am Ende etwas ganz anderes heraus, als ich ursprünglich geplant hatte. Und das mag ich! Denn dadurch fühlt es sich lebendig an. Das Wesen des Jazz ist es ja, zu improvisieren - und zwar nicht nur innerhalb bestimmter Harmoniefolgen, sondern auch konzeptionell. Und im Grunde gilt das für alle Formen von Musik: Es ist so wichtig, ganz im Moment präsent zu sein und zu überraschen - und nicht nur einfach Erwartungen zu erfüllen!
Es geht mir im Übrigen auch so, wenn ich selbst als Besucher auf einem Konzert bin und vorher genau weiß, was alles passiert. Das langweilt mich und zerstört regelrecht die Freude, die ich an Musik empfinde.
Was würden Sie sagen - wie perfektionistisch sind Sie in Ihrer Arbeit?
Lysne: Kommt darauf an. Wenn ich komponiere und dazu sehr detaillierte und ausgefeilte Partituren aufschreibe, bin ich sehr perfektionistisch. Dann möchte ich die Noten genau so gespielt haben, wie ich sie mir vorstelle, und die Dynamik ebenfalls. Aber dann gibt es natürlich auch die einzelnen Solo-Parts - und dabei ist mir wiederum wichtig, dass sich die Solisten wirklich ausprobieren können. Wenn dann ein Solist mit seinem Spiel die Rhythmusgruppe inspiriert, etwas zu spielen, das von meiner ursprünglichen Idee abweicht, dann unterstütze ich das gerne und passe meine musikalische Vorstellung entsprechend an.
Denn die eigentliche Energie der Musik kommt ja von den Musikern! Und das fasst die Kernaufgabe meiner Arbeit als Chefdirigent gut zusammen: die Energien der Musiker ins Fließen zu bringen. Das ist das Wichtigste überhaupt - egal ob man Count Basie oder Zeitgenössisches spielt. Ohne gute Energie läuft es nicht, und zugleich ist es auch eine Frage des Vertrauens: Wenn ich der Band Vertrauen entgegenbringe, dann werde ich auch welches zurückbekommen. Wenn ich aber nur meine eigene Vorstellung durchsetzen will, nehme ich den Musikern die Chance, wirklich etwas von sich zu zeigen.
Wie also muss eine Probe oder ein Konzert verlaufen, damit Sie das Dirigentenpult mit einem zufriedenen Gefühl verlassen?
Lysne: Für mich ist Musik immer auch eine Möglichkeit, Gemeinschaft und Verbundenheit mit anderen Menschen zu erleben. Es geht dabei nicht nur um die reine Kunst. Wenn wir also gemeinsam proben und ich in lächelnde Gesichter schaue und sehe, wie sich die Leute zur Musik bewegen oder sich nach einem Solo gegenseitig ein "Daumen hoch" zeigen und ich das Gefühl habe, dass sie gemeinsam füreinander ihr Bestes geben - dann macht mich das sehr glücklich!
Interview: Jessica Schlage (2019)