Ilka@home (19): Blickwinkel
Manchmal ist es gut, seine Situation von außen zu betrachten. Manchmal allerdings auch nicht. Wenn man zum Beispiel mit seinem DELFI-Kurs in einem einsehbaren Garten singt. Mindestens drei Oktaven zu hoch wird von Schnecken, tanzenden Füßen und Bärentatzen geträllert. Dazu sitze ich auf einer Decke mit rosa Bären und klatsche wie wild in die Hände, als hätte Werder das 5:0 im Weserstadion gegen die Bayern geschossen. Wäre ich vor einem Jahr an diesem Garten vorbeigegangen, hätte ich auf Medikamentenmissbrauch getippt und meine Verhütungsmethode überprüft.
Das zahnlose Lachen
Da mein Blick aber ausschließlich auf mein kleines Scheißerchen gerichtet ist, nehme ich auch nur sein zahnloses Lachen war, wenn ich mich zum Horst mache. Und dieser Blick gefällt mir so gut, dass ich ihn auch in der Stadt, im Supermarkt oder im Park aufsetze. So passiert es schon einmal, dass ich an der Käsetheke stehe, den Kinderwagen schunkele und dazu ein "Juchuh" juchze. Oder dass ich im Park mit Lenny unter einem Baum sitze und mich mit ihm über die schaukelnden Blätter freue. Ich glaube, wenn man mich so beobachtet, ist das für die Geburtenrate nicht sonderlich förderlich. Außer man hat den richtigen Blickwinkel. Oder ein Händchen für Youtube-Videos.
Unterschiedliche Blickwinkel auf eine Situation gibt es auch gerade bei einer Freundin. Sie wird nächsten Monat für eine Woche in so ein "Ayurveda-Chakra-Haus" in Indien gehen und Mann und Kinder alleine lassen. Er ist wahnsinnig sauer, weil er beruflich viel unterwegs ist und sich seinen Urlaub mit der Familie anders vorgestellt hat. Sie hingegen zählt die Stunden, bis es losgeht. Schließlich hat sie sich jetzt zwei Jahre ausschließlich um ihre Zwillingsjungs gekümmert und sehnt sich einfach nach einem ruhigen Plätzchen, selbst wenn das Ozeane entfernt ist. Neulich hat sie sich völlig fertig auf die Terrasse gesetzt und mit mir telefoniert, während die Kinder sich drinnen mit einer Klobürste bekämpft haben. Ihr war es egal, sie brauchte Ruhe zum Telefonieren.
Angeschickerte Mama oder Flamenco-Tanzerin?
Mal ehrlich, es gibt doch Frauen, die sind nach nur einem Jahr mit einem Mann, der sogar die Klobürste fachgerecht bedienen konnte, ins Exil nach Indien gereist. Oder an die Ostsee in ein Wellnesshotel. Hauptsache einfach mal nur mit sich sein. Aber auch hier gibt es eben verschiedene Blickwinkel. Während ich der Meinung bin, dass Mamas ihre Auszeiten brauchen, meinte neulich eine ansonsten ganz eloquente und sympathische Mutter zu mir, dass sie gar nicht verstehen könne, warum Mütter Zeit für sich haben wollen, "dann hätten sie eben keine Kinder kriegen dürfen". Mir ist fast mein Tofu-Würstchen im Hals stecken geblieben. Aber diesen Blickwinkel gibt es eben auch.
Ziemlich peinlich war mir neulich morgens der Blick auf das Geschehene. Am Abend zuvor habe ich auf einem Polterabend wie wild zu den Gipsy Kings getanzt. Eine angeschickerte Mama, die denkt, sie wäre Flamenco-Tänzerin und sich zu "Baila Me" selbst vor Freude auf den Po klatscht. Als Außenstehende hätte mir ich das Getränk selbst aus der Hand gerissen und vermutlich meinen Verstand angezweifelt. Aber aus meiner Sicht hatte ich einfach mal wieder richtig Spaß.
Es gibt so viele unterschiedliche Blickwinkel, aus denen wir Situationen betrachten können. Mir ist diese Woche nur aufgefallen, wie wichtig es ist, den Radius dabei möglichst groß zu halten …