25 Jahre Tafel auf Sylt: Mehr als eine Lebensmittelausgabe
Vor 25 Jahren hat die Gründerin Dörte Lindner-Schmidt zum ersten Mal Essen über die Sylter Tafel verteilt. Unsere Autorin hat eine zeitlang bei der Tafel mitgeholfen und Einblicke in die Arbeit eines besonderen Teams bekommen.
"Lass uns mal das Obst hier rechts hinstellen, links das Gemüse!" Dörte Lindner-Schmidt schiebt Obstkisten hin und her, das Telefon klingelt, sie wuselt durch den Raum, gestikuliert, gibt Anweisungen. Ich muss ein bisschen schmunzeln: Es ist alles noch genauso wie vor acht, neun Jahren, als ich noch Teil des Tafel-Teams war. Dörte scheint nichts von ihrer Energie verloren zu haben. Kleine Powerfrau, denke ich, als ich sie hier wirbeln sehe. Wobei sich "klein" nur auf ihre Körpergröße bezieht - ihr Engagement für die Tafel und ihr Herz sind riesengroß. Es hat etwas Beruhigendes, dass es in dieser verrückten Welt doch noch Dinge gibt, die Bestand haben: Dörtes unermüdlicher, ehrenamtlicher Einsatz für die Sylter Tafel und diese Einrichtung als solche, die sie vor 25 Jahren aus der Taufe gehoben hat.
"Dörte ist ein wunderbarer Wirbelwind", sagt Helga Ahlborn und lacht - die gute Seele, die hier auch schon seit 20 Jahren mithilft. "Sie liebt ihren Job einfach. Sie liebt die Tafelgäste und sie liebt uns. Dörte hat immer ein offenes Ohr und ein großes Herz", sagt Heinke Tadsen. Sie ist relativ neu dabei.
Eine Tafel? Brauchen wir nicht auf Sylt!
Dörte Lindner-Schmidt ist ausgebildete Sport- und Gymnastiklehrerin, auf Sylt geboren. Ihre Eltern haben früher ein Erholungsheim für Kinder geleitet. "Ich bin damit aufgewachsen, dass wir Sachen teilen, die wir selbst nicht verbrauchen oder benutzen", erzählt sie. Und das ist der ursprüngliche Ansatz gewesen, eine Tafel auf Sylt zu gründen: Lebensmittel zu verteilen, die sonst weggeschmissen werden. Der kommt damals aber gar nicht so gut an auf der Insel. "Eine Tafel, für Bedürftige? Sowas brauchen wir hier nicht", Dörte erinnert sich gut daran. Doch sie setzt die Idee in die Tat um. 38 Jahre alt ist sie bei der allerersten Essensausgabe. "Da war so viel Power, so viel Energie. 20 Mitarbeiter waren wir damals - genau so viele haben sich Lebensmittel geholt."
Eine Tafel? Ja, auch Sylt braucht sie
Drogensüchtige und Punker sind vor 25 Jahren die ersten Tafelgäste. Es dauert eine Weile, bis sich das Angebot rumspricht. Doch dann kommen auch Rentner. Wann immer ich mit Menschen über Sylt im allgemeinen und die Schattenseiten im speziellen ins Gespräch gekommen bin, habe ich oft die Tafel angesprochen. Ungläubige, erstaunte Blicke geerntet. Dass das Geld auf dieser vermeintlich reichen Insel eben doch nicht dafür reicht, dass alle Menschen ihre Grundbedürfnise decken können - das können sich viele nicht vorstellen. Zumindest vor einigen Jahren nicht. Und heute? Ich spreche wahllos einige Menschen auf der Strandpromendade. an: Einige kennen die Tafel, andere nicht. Es hält sich fast die Waage. Doch darüber, dass es dieses Abgebot gibt, wundert sich keiner mehr. "Bei den Preisen heutzutage..." Statt damals 20 Tafelgäste kommen heute 80, 90 pro Ausgabe. Zweimal in der Woche wird Essen verteilt. Davon leben insgesamt etwa 300 Menschen.
Privatsphäre wird großgeschrieben
Der Gang zur Tafel ist für viele ein schwerer, weiß Dörte. Der erste Schritt ist der schwerste. Gerade auf Sylt, wo der schöne Schein oft alles ist, ist die Scham der Tafelgäste besonders groß. Ich frage mich, ob sich nicht eher die schämen sollten, die diese Menschen ausgrenzen. Die meinen, ihnen könne das nicht passieren: auf Lebensmittel der Tafel angewiesen zu sein. "Armut hat viele Gesichter. Und sie kann jeden treffen", ist Dörte überzeugt. Es muss wohltuend für die Tafelgäste sein, zu wissen, dass Dörte ihre Privatsphäre schützt.
Jeder Mitabeitende unterschreibt eine Verschwiegenheitserklärung: Wer sich hier mit Lebensmitteln eindeckt, welche Geschichte die Menschen haben, darüber wird öffentlich nicht gesprochen. Erst recht nicht mit den Medien. Immer wieder muss Dörte Kamerateams abwehren. Die Menschen und ihre Geschichten finden hier bei der Tafel einen geschützen Raum. Dörte und ihr Team kennen sie gleichwohl, und es sind oft traurige Geschichten. "Aber wir haben hier trotzdem so viel Freude bei der Arbeit und mit den Menschen, das ist einfach schön."
Sylter Tafel: Emotionen und Teamgeist
Die Zusammentreffen bei der Tafel sind, vor allem am Anfang, emotional. Für die, die sich hier Essen holen. Aber auch für die, die es abgeben. Ich erinnere mich gut an meine ersten Essensausgaben. Auf der einen Seite machte es mich betroffen und traurig: Da standen Menschen, die angewiesen waren auf die Lebensmittel. Denen ich auch mal sagen musste: Bitte erst mal nur einen Joghurt, wir haben heute nicht so viel. Auf der anderen Seite sieht man die Dankbarkeit in den Augen der Gäste. Man kommt ins Gespräch, macht Scherze. Das erfüllt einen mit Freude. Mit den unterschiedlichen Emotionen haben gerade am Anfang viele zu kämpfen, sagt auch Dörte.
"Manche gehen nach dem ersten Einsatz nach Hause und heulen." Auf der anderen Seite gibt einem diese Aufgabe viel zurück. Auch, weil da ein ganz großer Zusammenhalt ist im Team. Das war zu meiner Zeit schon so und ist heute nicht anders. 35 Frauen und Männer arbeiten ehrenamtlich hier. Und geben den Tafelgästen - neben den Lebensmmitteln - mit das Wertvollste, was man geben kann: Zeit und Wertschätzung. Und Dörte ist wahnsinnig stolz auf ihr Team. "Das ist ja keine One-Woman-Show hier. Ohne mein Team wäre das hier alles nicht möglich." Aber auch viele Sylter Betriebe tragen mit ihren Lebensmittel- und Geldspenden dazu bei, dass die Tafel dieses Jahr ihr 25-jähriges Bestehen feiern kann.
Herausforderung? Gemeistert!
In den vergangenen 25 Jahren hat Dörte mit ihrem Team manche Herausforderung gemeistert. Eine davon habe ich selbst miterlebt: Als 2015 die ersten Geflüchteten bei den Essensausgaben anstehen. Statt 50, 60 Menschen stehen plötzlich an die 100 da. "Auf einmal wurde nach Datteln gefragt und anderen orientalischen Produkten. Die mussten wir erst mal besorgen", erinnert sich Dörte. Und auf einmal müssen die Sylter Tafelgäste die Lebensmittel mit viel mehr Menschen teilen. Das eine oder andere Gerangel bleibt nicht aus. "Das war anfangs schon problematisch. Aber dann saßen die älteren Sylter plötzlich mit den Syrern und Afghanen an einem Tisch, freuten sich, dass sie ihre Englisch-Kenntnisse auskramen konnten und kamen ins Gespräch. So funktioniert Integration."
Sylter Tafel ist auch Begegnungstätte
Es gehört zum Wesen der Sylter Tafel, dass man sich hier nicht nur Lebensmittel holt, sondern danach noch auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen bleibt. Schnackt, sich austauscht, für einen Moment ausbricht aus dem üblichen Alltagstrott. Auch das hat Dörte eingeführt. Genauso, wie das Team sich vor der Ausgabe bei Kaffee und Kuchen zusammensetzt. Dörte lädt mich ein, mich dazuzusetzen. Und wieder fühle ich mich acht Jahre zurückversetzt, genieße die fröhliche Stimmung, den freundlichen Schnack und die warmherzige Atmosphäre.
Liebes Tafelteam, ihr leistet Großartiges! Eure Empathie, euer Teamgeist und euer Zusammenhalt sind beispielhaft. Es ist schön zu sehen, wie sehr die Freude an der Aufgabe euch zusammenhält. Bewahrt euch eure Warmherzigkeit, aber auch alle Ecken und Kanten - sie sind die Seele der Sylter Tafel.