Stand: 04.08.2017 09:48 Uhr

Mit dem Rollstuhl in Wacken

von Niklas Schenck, NDR Info

Anna de Jesus Santos hat schon viel von der Welt gesehen. Die Schweizerin mit dem südamerikanisch klingenden Nachnamen hat einige Jahre in Brasilien gelebt. Heute trifft sie zum ersten Mal auf die zentimetertiefen Schlammlöcher von Wacken - direkt hinter den schwarzen Bannern am Festival-Eingang. "Ich habe gedacht, wenn ich es jetzt nicht mehr mache, mache ich es nie mehr. Ich bin ja schon fast 64 Jahre alt. Irgendwann ist man einfach zu alt für so etwas."

Hindernis Schlammpfützen

De Jesus Santos sitzt im Rollstuhl, seitdem sie ein kleines Kind ist. Die Polio lähmte einen Großteil ihrer Muskeln. An ihren Rollstuhl hat sie für diesen Tag vorn ein kleines Fahrrad mit Elektromotor befestigen lassen. Bis hierher steuert sie ihr E-Bike selbst - die drei Kilometer vom Supermarkt-Parkplatz, über die Straße mit den Einfamilienhäusern, vorbei an grasenden Kühen. Und quer durch die Fußgängerzone der Kleinstadt, in der diese Woche wieder alles anders ist als sonst - überall junge und ältere euphorische Menschen in schwarzen Klamotten, mit Bierbechern in der Hand. "Ich find's toll. So viele Eindrücke und lustige, herrlich gekleidete Leute."

Jetzt, am Eingang, steht sie vor einem riesigen Schlammfeld aus Pfützen. Der Regen hat den Boden komplett aufgeweicht. "Das Problem sind die Löcher im Boden. Wenn du da mit dem kleinen Rad reingerätst, kippst du schnell nach vorne. Da muss man schon aufpassen."

Initiative für Barrierefreiheit bei Kulturveranstaltungen

Eine Frau im Rollstuhl vor dem Festivalpanorama des Wacken Openairs © NDR Foto: Schenk, Niklas
AUDIO: Mit dem Rollstuhl in Wacken (4 Min)

Aber sie ist nicht alleine. Auf der Website von Wacken fand de Jesus Santos ein Projekt, das Festival-Besucher mit und ohne Behinderung zusammenbringt. Ab hier übernimmt ihr Begleiter Nils Paustian den Rollstuhl, stemmt sich gegen die dünnen Reifen. Immer wieder versinken diese im Matsch. "Mit eigenem Antrieb hängt der immer wieder fest, deshalb muss ab jetzt einer dabei sein", sagt Paustian.

Der 37-Jährige ist hier einer von insgesamt 28 Begleitern von "Inklusion muss laut sein". Die Initiative setzt sich für die Barrierefreiheit von öffentlichen Kulturveranstaltungen wie Konzerten, Festivals, Theater- oder Kinobesuchen ein. Dazu vermittelt sie Begleitpersonen, wie in Wacken. In Deutschland leben mehr als zehn Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung. Doch im öffentlichen Leben sind sie oft noch viel zu selten sichtbar.

Wacken im Rollstuhl? Traum erfüllt

Den gemeinnützigen Verein "Inklusion muss laut sein" hat Paustians älterer Bruder Ron vor knapp zehn Jahren in Hamburg gegründet. Er selbst hat eine psychische Behinderung und ist leidenschaftlicher Metal-Fan. Am Anfang bestand die Initiative aus zwei Mitgliedern. Sie wollen, dass alle gemeinsam Konzerte genießen und feiern - und die Schlammpfützen und anderen Hindernisse überwinden, die etwa Rollstuhlfahrern oder Sehbehinderten im Weg sind. Aus den zwei Gründungsmitgliedern ist inzwischen ein Netzwerk geworden, mit mehr als 1.500 Ehrenamtlichen. Einmal im Monat halten sie sich in einem Newsletter über neue Veranstaltungen auf dem Laufenden. Dem Gründer Ron Paustian ist wichtig, dass keine professionellen Pfleger eingesetzt werden. "Wir schicken wirklich Freunde mit Freunden los. Mit gleichen Interessen, gleichen Bedürfnissen. Unsere Ehrenamtlichen haben da wirklich Bock drauf. Und sie stehen hinter dem, was sie tun." Die Schweizerin Anna de Jesus Santos hat sich so nach vielen Jahren einen Traum erfüllt. Mit ihrem Begleiter Nils Paustian sucht sie sich einen Platz in der Menge vor der ersten Musikbühne. "Ich habe ja die Füße nicht am Boden. Ich könnte so weitermachen."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Perspektiven - auf der Suche nach Lösungen | 04.08.2017 | 07:38 Uhr

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