Zeitreise: Als es in Kiel einen Atomreaktor gab
In Kiel wurde 1966 ein Unterrichtsreaktor in Betrieb genommen. Es war ein funktionierender Atomreaktor, an dem Techniker für Atomkraftwerke und Atomschiffe ausgebildet werden sollten. 1997 wurde er stillgelegt.
Kann das denn überhaupt sein? Gab es früher mitten in Kiel einen Atomreaktor? Und niemand hat davon gewusst? Gab es im Keller der früheren Ingenieursschule im Knooper Weg Kernspaltungen, an dem Uran 235 beteiligt war? An einem Platz, in dem innerhalb eines Radius von fünf Kilometern Hunderttausend Menschen wohnen? Die Antwort ist ein klares "Ja"! Es gab diesen Kernreaktor mitten in Kiel.
Auf den Spuren des Kernreaktors
Martin Rackwitz ist der Historiker der Kieler Stadtgesellschaft. Im Archiv der Stadt hat er Artikel gefunden, die über die Inbetriebnahme des Kieler Reaktors berichteten. Am 29. März 1966 wurde er der Schule übergeben und damit wurde zugleich die Genehmigung erteilt, den Kernreaktor hochzufahren. Damit, berichtet die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, hielt das Atomzeitalter in Kiel endgültig Einzug. Der Siemens-Reaktor SUR 100 sollte helfen, die nötigen Ingenieure auszubilden, die man für Kernkraftwerke und vor allem auch für atomgetriebene Schiffe brauchte. Damals ging man davon aus, dass die Atomkraft als preiswerte und stets verfügbare Energie, Öl, Gas und Kohle rasch ablösen würde. Um den radioaktiven Abfall machte man sich noch Gedanken und Sorgen.
Der SUR 100
Der SUR 100 war ein Unterrichtsreaktor mit einer Leistung von gerade einmal 0,1 Watt. Eine Gefahr ging von ihm nicht aus. Aber es war ein funktionierender Reaktor, ein Atommeiler in Miniaturformat. Er war etwa 2,3 Meter hoch und hatte einen Durchmesser von zwei Metern. In ihm wurde eine Kernspaltung in einem Reaktorkern durchgeführt, der ungefähr so groß wie ein Schuhkasten war. Der Kern bestand aus zwei Hälften, die eine Uranfüllung besaßen. Wenn sie zusammengefahren wurden, spielte sich eine Kettenreaktion ab. Dabei reagierten Neutronen mit Atomkernen von Uran 235, und Energie wurde erzeugt. So ähnlich funktionieren auch Atommeiler, die eine viel größere thermische Leistung haben.
Ein ungefährlicher Unterrichtsreaktor
Gefährlich aber sei er wirklich nicht gewesen, erklärt Jens Baggesen. Der heute 87 Jahre alte Ingenieur war in Kiel für den Strahlenschutz im Labor zuständig, wenn der SUR 100 in Betrieb war. Zugleich leitete er die Studenten an. Das waren sehr oft schon ausgelernte Ingenieure, erzählt er. Und die wollten nun noch eine Zusatzqualifikation machen, denn im Atomkraftwerk oder auf einem Atomschiff zu arbeiten, galt als äußerst lukrativ. Baggesen meint, einen Unfall gab es in den drei Jahrzehnten, in denen er den Unterrichtsreaktor erlebte, nie. Der Reaktor hätte sich auch bei einer Überhitzung sofort abgeschaltet. Trotzdem musste natürlich die Gammastrahlung ständig kontrolliert werden.
Abschied vom SUR 100 Kiel
Doch schon in den 1970er Jahren wurde Kritik an der Kernkraft laut. Häfen wurden für das deutsche Atomschiff "Otto Hahn" gesperrt. Das Interesse schwand, die Interessenten für eine Ausbildung als Kerntechniker wurden weniger. Baggesen meint, man habe es nie an "die große Glocke gehängt", dass es den Unterrichtsreaktor gab. Es wurde nie gezielt die Bevölkerung informiert. 1997 wurde der Reaktor außer Betrieb genommen. Er wurde stillgelegt, die einzelnen Teile in Zwischenlager für radioaktiven Abfall geschickt. Inzwischen ist das Gebäude vollkommen abgetragen und entfernt. Stattdessen steht jetzt hier ein Gebäude der Muthesius Kunsthochschule, die 2012 in die Räume der ehemaligen Ingenieursschule in Kiel eingezogen ist.
Heute erinnert nichts mehr an den Atomreaktor und die Zeit, als Kiel eine der führenden Ausbildungsorte für Atomtechnik in der Bundesrepublik war.