Wie Ehrenamtliche NS-Opfern im Kreis Pinneberg eine Stimme geben

Stand: 08.05.2024 14:40 Uhr

Seit zwölf Jahren gibt es im Kreis Pinneberg den "Förderverein Gegen das Vergessen - Spurensuche im Kreis Pinneberg und Umgebung 1933-1945 e.V." Eine Gruppe Ehrenamtlicher sucht und erforscht seitdem Spuren in die Vergangenheit.

von Corinna Below

Annette Schlapkohl war eigentlich gerade nur damit beschäftigt, eine Akte von 1949 zu sichten. Ein Neuzugang aus dem Standesamt. Sie wollte sie katalogisieren, um sie anschließend in einem säurefreien Archiv-Karton abzulegen. Routine. Der Inhalt: Eine Suchanfrage der britischen Besatzer. Die Gemeinden sollten die im Krieg gestorbenen Ausländer melden. Für die Archivarin der Stadt Tornesch (Kreis Pinneberg) eine wertvolle Akte, denn "hier haben wir von einer Kriegszeit noch eine Spur, die wir sonst nicht haben, weil die Akten alle vernichtet worden sind." Jedes Blatt schaut sie sich genau an und entdeckt so, dass auch von einem toten Kind die Rede ist: Henry Dyda, ein Säugling, gestorben im März 1945. Sie beschließt, die Spur aufzunehmen. Annette Schlapkohl ist nicht nur Stadtarchivarin. In ihrer Freizeit ist sie Spurensucherin für den "Förderverein Gegen das Vergessen - Spurensuche im Kreis Pinneberg und Umgebung 1933-1945 e.V". Ihr Ziel: Den Opfern des Nationalsozialismus eine Stimme zu geben "weil die Zwangsarbeiterkinder niemanden haben, der sich darum kümmert."

Arbeit unter Zwang zwischen 1939 und 1945

Ein altes Schriftstück in Nahaufnahme © NDR Foto: NDR Screenshot
Dieses Dokument stammt aus einer Akte von 1949. Es verrät, dass 1945 das Kind einer russischen Zwangsarbeiterin nach kurzem Leben verstorben ist.

Bekannt ist, dass nach Kriegsbeginn im September 1939 etwa 225.000 Frauen und Männer nach Schleswig-Holstein verschleppt wurden - aus Russland, Polen und allen anderen besetzten Ländern. Sie mussten in Fabriken, in Häfen, in Baumschulen oder auf Bauernhöfen Zwangsarbeit leisten. Adolf Hitler nannte das "Arbeitskräfte schöpfen". Säuglinge wie Henry störten da nur, würden sie ihre Mütter doch von der Arbeit abhalten.

Auf der Suche nach Henrys Grabstelle

Friedhof Tornesch. Hier irgendwo auf dem Gelände müsste Henry begraben sein. So steht es in den Akten. Wo, das will Annette Schlapkohl herausfinden. Sie hofft auf einen Eintrag im Friedhofsbuch von 1945. Der Leiter der Friedhofsverwaltung, Helmut Keßler, holt das historische Buch aus dem feuerfesten Panzerschrank und legt es ihr vor. Seitenweise Namen und Daten. Akribisch arbeitet sie sich durch die Liste und findet den Eintrag, den sie sucht, tatsächlich. Laut Buch soll Henry Dyda auf Feld 19 A liegen. Annette Schlapkohl geht davon aus, dass seine Mutter ihn nicht versorgen konnte, weil sie als Zwangsarbeiterin den ganzen Tag arbeiten musste. Er habe keine Überlebenschance gehabt. Zur Versorgung der Zwangsarbeiterkinder gab es von ganz Oben eine Ansage - von Reichsführer SS Heinrich Himmler im Sommer 1943: Wenn man nicht wolle, dass Kinder der Zwangsarbeiterinnen am Leben bleiben, so heißt es in einer Verfügung, "dann soll man sie nicht langsam verhungern lassen und durch diese Methode noch viele Liter Milch der allgemeinen Ernährung entziehen."

Eine Homepage gibt Auskunft über die Nazizeit © NDR Foto: NDR Screenshot
Spurensuche Kreis Pinneberg und Umgebung heißt die Internetseite. Sie ist interaktiv angelegt, sodass Interessierte Anregungen geben oder Fragen stellen können.

Zusammen mit Helmut Keßler hat Annette Schlapkohl mittlerweile das Feld 19 gefunden. Sie bleiben von einer großen Eiche stehen. Hier könnte es gewesen sein. Aber es gibt keinen Hinweis auf das Kind, keinen Grabstein. "Es gibt zwar auf dem Friedhof ein eigenes Feld für Kindergräber", erzählt Schlappkohl, aber Henry sei eben hier begraben, "am Rande." Sie hält kurz inne. Traurig sei das. Aber sie freue sich darüber, "dass hier immerhin diese Eiche steht". Sie fände schön, wenn man "als Erinnerungsort vielleicht irgendwie kennzeichnen könnte", dass er hier begraben wurde.

434 Spuren in nur zwölf Jahren

Vereins-Treffen im Heimathaus in Tornesch. Regelmäßig trifft sich die Gruppe des Fördervereins, um sich gegenseitig von ihren Recherchen zu berichten. 433 Spuren haben sie auf ihrer interaktiven Internetseite seit Gründung im Jahr 2002 bereits veröffentlicht. Die Spur zu Henry Dyda wird die 434. sein. "Das ist ein Projekt, was ja auch davon lebt, dass es ständig vervollständigt und weitergeführt wird", erzählt der Vereinsvorsitzende Jörg Penning. Es gäbe noch viele andere Orte und Ereignisse, die noch gar nicht erfasst seien. Deshalb würde sich der Verein auch über Verstärkung freuen. Jeder, der Lust habe, sich an der Spurensuche zu beteiligen, sei willkommen.

Mit ihrer Arbeit will die Gruppe auch gesellschaftlich etwas bewegen, erzählt Penning weiter: "Wir wollen damit auch zeigen, dass Politik nicht nur in Berlin oder in anderen größeren Metropolen stattgefunden hat, sondern, dass sich alles auch in den kleinen Orten widerspiegelt." Jedes Einzelschicksal, wie das verstorbene Zwangsarbeiterkind, sei von großem Interesse, auch wegen des lokalen Bezugs.

Mehrere Personen stehen bei einer Schautafel in einem Wald © NDR Foto: NDR Screenshot
Die Mitglieder des Vereins setzen sich seit Jahren dafür ein, dass dieser Platz endlich auch offiziell und sichtbar Paul-Warnecke-Platz heißt.
Mord durch die SA an einem 17 Jahre alten Quickborner

Was das bewirken kann, zeigt eine der ersten Spuren, die sie veröffentlicht haben: die des 17 Jahre alten Quickborners Paul Warnecke. Er wurde am 5. März 1933 bei einer Auseinandersetzung von SA-Männern erschossen. Am Tatort, einer kleinen Grünfläche gleich neben den Bahngleisen, gibt es mittlerweile einen Stolperstein und eine Gedenktafel. Bei ihrer Recherche fand die Gruppe aber auch heraus: 1946 hat die Stadt entschieden, den Platz in Paul-Warnecke-Platz umzubenennen. Umgesetzt wurde der Beschluss aber nie. Seit Jahren wird in der Stadt darüber kontrovers diskutiert. "Ja, es ist weiterhin Thema", sagt Jörg Penning. Es werde tatsächlich richtig darüber gestritten, "und die Geschichte lebt weiter dadurch."

Nach der Suche ist vor der Suche

Eine Frau steht vor einem PC-Monitor © NDR Foto: NDR Screenshot
Spurensucherin Annette Schlapkohl freut sich darüber, dass sie so überraschend viel über das Schicksal Henry Dydas herausfinden konnte.

Annette Schlapkohl will nun gucken, ob sie noch mehr über den kleinen Henry herausfinden kann. Sie hat deshalb einen Termin im zuständigen Standesamt Uetersen gemacht. Hier findet sie seine Geburtsurkunde - und zwar überraschender Weise mit Informationen über Henrys Mutter, über die die Archivarin bereits herausgefunden hatte, dass sie nach dem Krieg in die USA ausgewandert war. Jetzt weiß sie außerdem, dass die Zwangsarbeiterin auf dem Bauernhof Mohr gearbeitet hat. "Da kriegt das Ganze noch ein anderes Gesicht." Als sie kurz darauf schon wieder an ihrem Schreibtisch im Stadtarchiv sitzt, schickt ihr der Standesbeamte weitere Informationen per E-Mail. Er hat einen Zugang zu Ancestry, einer US-amerikanische Datenbank für Ahnenforschung. Annette Schlapkohl: "Da hat er zu Ewa Dyda ganz schnell herausgefunden, wo sie in den USA gelebt hat und wann sie gestorben ist." Sogar ein Foto von ihrem Grabstein habe er ihr geschickt. Sie habe Gänsehaut bekommen, sagt sie und lächelt.

Die Spur zu dem kleinen Henry ist heute Morgen, am 8. Mai online gegangen, am Tag der Befreiung von Terror und Faschismus. Da machten sie immer so. Das sei ein gutes Datum. Aber nach der Recherche ist vor der Recherche. Annette Schlapkohl will nun noch mehr über Henrys Mutter herausfinden. Und so setzt sich das Mosaik aus einzelnen kleinen Spuren zu einem großen Bild zusammen. Nach und nach.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 26.05.2024 | 19:30 Uhr

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