Migräne: Mehr als nur Kopfschmerz
15 Prozent der Schleswig-Holsteiner haben Migräne. Im Laufe des ganzen Lebens sind sogar 40 Prozent der Bevölkerung in SH betroffen - dreimal so viele Frauen wie Männer. Für viele ist Migräne die Hölle im Kopf.
Migränepatienten erleben häufig starke Schmerzen - so auch Eva Petersen. Die 50-Jährige aus Alt Duvenstedt (Kreis Rendsburg-Eckernförde) hat schon ihr halbes Leben lang Migräne: "Alle Glieder tun weh, die Muskeln sind schwer, die Knochen tun weh. Es ist, als wenn man hoch Fieber bekommt. Ohne Medikation sind die Schmerzen so stark wie Geburtsschmerz." Bei vielen Migräne-Patienten werden die Attacken außerdem von Übelkeit, Erbrechen, Bewusstseinsstörungen und Sehstörungen, der sogenannten "Aura", begleitet. Betroffene sind häufig extrem lärm- und lichtempfindlich. Die Attacken dauern oft mehrere Tage am Stück und beeinträchtigen das Leben, den Alltag und die Arbeitsfähigkeit.
Migräne entsteht, wenn das Gehirn unterversorgt ist
Bei Menschen mit Migräne arbeitet der Kopf fast pausenlos - sie grübeln viel und nehmen ihre Umgebung verstärkt war. Häufig sind sie sehr kreativ und emotional. Das Gehirn hat daher einen hohen Energiebedarf und muss ständig versorgt werden. Kommt zu wenig Energie bei den Nervenzellen im Kopf an, können sie nicht mehr richtig arbeiten und die Migräne beginnt. Ein erstes Symptom ist daher Heißhunger nach Süßem. Doch dann ist es meistens schon zu spät - die Gefäßwände der Nerven im Kopf werden weit und entzünden sich. Jeder Pulsschlag, jede Bewegung wird als Schmerz empfunden. Das Nervensystem muss sich dann erstmal erholen - und das dauert mehrere Tage.
Migräne ist nicht nur Kopfweh
Patientin Eva Petersen hat die Migräne-Attacken in letzter Zeit bis zu acht Tage hintereinander - das ist zu viel für sie. Hilfe bekommt sie bei Professor Harmut Göbel in der Schmerzklinik Kiel. Der Neurologe forscht seit über 30 Jahren zu der Erkrankung. Er sagt: "Migräne ist nicht Kopfweh, sondern eine sehr komplexe Erkrankung. Man sagt auch: Es ist die Enzyklopädie der Neurologie, weil es so unterschiedlich auftreten kann, mit unterschiedlichsten Symptomen." 367 Formen von Kopfschmerzen und allein 48 Unterformen der Migräne gebe es. Da die Krankheit nicht durch einen Bluttest nachzuweisen sei, koste es Zeit und Wissen, um die richtige Diagnose zu stellen. Der Arzt müsse mit dem Patienten genau herausarbeiten, wie der Schmerz und die Attacken ablaufen.
Migräne verändert alles
Die Migräne hat den Alltag von Eva Petersen komplett beeinflusst. Ihre Selbstständigkeit als Betreiberin einer Pension musste sie aufgeben. Jetzt arbeitet sie wieder in ihrem alten Job als Krankenschwester - ihre Arbeitszeit hat sie auf 25 Stunden pro Woche reduziert. Und die Migräne betrifft nicht nur sie, sondern ihr gesamtes Umfeld. Für sich und ihre Familie will sie aber stark bleiben. "Das führt natürlich schon dazu, dass man seine Erkrankung auch oft versteckt. Und um das zu können, muss man natürlich eine wahnsinnige psychische Kraft aufbringen, um sich dann in dem Moment aufzuraffen, alle Kraft darein zu stecken und eine Maske aufzusetzen. Ich sage mir selbst: Jetzt funktioniere ich, bis alle wieder aus dem Raum sind. Und dann sackt man in sich zusammen - das zehrt unglaublich aus."
Individuelle Krankheit - individuelle Therapie
Neben der Beeinträchtigung für Leben und Alltag kann Migräne auch körperliche und psychische Auswirkungen haben. Betroffene haben häufig Verspannungen und ein erhöhtes Risiko für Angsterkrankungen und Depressionen. Es kann außerdem zu einem erhöhten Medikamentengebrauch und Schlaganfällen kommen. Genauso komplex und individuell wie die Migräne selbst ist auch die Therapie der Krankheit. Professor Hartmut Göbel entscheidet dabei zwischen drei Säulen: Erstens Wissen, zweitens Akuttherapie durch Schmerzmittel und drittens vorbeugende Maßnahmen. Patienten müssten geschult und zum Experten für ihre Krankheit werden - je mehr sie darüber wissen, desto besser. Migräne-Patienten helfe außerdem ein regelmäßiger Tagesablauf, eine ausgewogene Ernährung, Entspannungsverfahren und Physiotherapie.
Die Ausgaben für Migränemittel stiegen in den letzten Jahren in Schleswig-Holstein stark an - das hat eine Auswertung der Krankenkasse AOK ergeben. Alle gesetzlich Krankenversicherten im Land bekamen zusammen im Jahr 2023 Migränemedikamente im Wert von über 7,4 Millionen Euro verschrieben. Das sind 13 Prozent mehr als noch 2022. Seit 2018 haben sich die Kosten sogar mehr als verdoppelt. Das liegt vor allem an neuen Medikamenten zu Prophylaxe, die seit 2019 auf dem Markt und sehr teuer sind.
Erster Migräne-Master in Kiel
Die Forschung zu Migräne sei in den letzten Jahrzehnten explodiert, sagt Professor Hartmut Göbel. Das Wissen sei inzwischen so umfangreich, dass es für allgemeinmedizinische Praxen kaum möglich sei, die Krankheit richtig zu behandeln. Aus diesem Grund bietet die Schmerzklinik Kiel zusammen mit der Christian-Albrechts-Universität seit zwei Jahren einen berufsbegleitenden Master "Migraine and Headache Medicine" an. Ärzte und Neurologen können sich so gezielt weiterbilden. Die Studierenden kommen aus ganz Deutschland, denn Kiel ist führend auf dem Gebiet und ein bundesweites Exzellenzzentrum für die Therapie. In Theorie- und Praxisphasen sollen während des Masters eine noch gezieltere Diagnostik und Therapieverfahren vermittelt werden.
Migräne-App als praktische Hilfe
Durch den stationären Aufenthalt in der Kieler Schmerzklinik konnte Patientin Eva Petersen die Attacken-Phasen verkürzen. Eine ganz praktische Hilfe für den Alltag ist für sie eine Migräne-App, die auch von der Schmerzklinik Kiel entwickelt wurde. In die kann sie eintragen, wann sie Schmerzen hatte und welche Medikamente genommen hat. Die App hilft ihr auch bei der richtigen Dosierung der Medikamente wie den Triptanen, die dafür sorgen sollen, dass sich die Gefäße im Kopf wieder verengen. "Was sehr wichtig ist, ist, dass ich immer erkennen kann, wie viel Akutmedikation ich in den letzten 30 Tagen eingenommen habe. Das ist wichtig, um die sogenannte 10-20-Regel einzuhalten, denn mehr als 10 Mal in 30 Tagen sollte man keine Akutschmerzmedikation einnehmen. Sonst hat man nachher wieder dadurch Probleme."
Gemeinschaft ist wichtig
Ein weiterer Punkt, der Betroffenen wie Eva Petersen hilft, ist der Rückhalt von Freunden und Familie. Vor allem junge Migräne-Patienten vernetzen sich außerdem über Social Media und fühlen sich so weniger allein. Influencerinnen wie die 25-jährige Phia Quantius wollen die Krankheit entstigmatisieren. Sie spricht in sozialen Netzwerken offen über die Krankheit und filmt sich sogar bei ihren Migräne-Attacken, um der Krankheit ein Gesicht zu geben. Auch Eva Petersen wünscht sich, dass Migräne von der Gesellschaft ernst genommen wird. Sätze wie "Kopfschmerzen habe ich auch manchmal" möchte sie nicht mehr hören. "Ich denke, dass es total wichtig ist, dass anerkannt wird, dass es nicht nur um einen Kopfschmerz geht, denn die Migräne, die fällt mich hinterrücks an. Ich hab ja keinen Einfluss darauf, wann der Anfall kommt. Das ist schon richtig gemein." Die Migräne wird immer in ihrem Leben bleiben. Aber Eva Petersen hat gelernt, mit ihr zu leben.