Kolumne: Der Weihnachts-Zündstoff, der Familie heißt
Mit dem Auto, der Bahn oder sogar dem Flugzeug reisen wir dieser Woche durch die Lande. Zielort: der Weihnachtsbaum. An diesem Fluchtpunkt versammelt es sich, um gemeinsam zu feiern. Feiern? Unsere Kolumnistin schaut mal genauer hin.
Wie sehr wir Gewohnheitstiere sind, merkt man daran, dass wir sogar Unangenehmes mit Wohligkeit verbinden: "Muss ja." An Weihnachten machen wir da keine Ausnahme. Jedes Jahr das Gleiche: Der Dezember vergeht wie im Flug und plötzlich stehen die Feiertage vor der Tür. Wie ein Gast, der viel zu früh kommt, während man noch im Schlafanzug ist und die Bude aussieht wie Sau. Jedes Mal. Weil irgendwie klappt's dann ja doch am Ende. Oder halt nicht und dann ist's auch irgendwie okay, weil Weihnachten. Oder?
Zu viel Essen, Geschenke und Erwartungen
In einem Text wie diesem ein Weihnachtsgefühl zu beschwören, dass alle gleich doll fühlen, ist schwer. Einige haben tatsächlich alles im Griff, die Heiligabend-Orga bis zum letzten Knödel durchgeplant und eine wahrhaftig heile Familie. Andere (laut Statista rund 20 Prozent) feiern aus verschiedenen Gründen gar keine Weihnachten. Und dann gibt es diese Mischwesen, mich inbegriffen, bei denen die kommenden Tage verlässlich eine wilde Achterbahnfahrt aus zu hohen Erwartungen, vielen Gefühlen und noch mehr Kalorien ist.
Spannungsabfall bei "Stille Nacht"
Da sitzen dann die altbekannten Pappnasen zusammengepfercht im Wohnzimmer. Über "Stille Nacht" fällt die Spannung ab, oder findet zumindest im vierten Becher Glühwein ein geeignetes Ventil. Kerzen- oder LED-Licht erhellt Gesichter, die mit zusammengebissenen Zähnen versuchen, heiklen Gesprächsthemen auszuweichen.
Bis zu dem Moment, an dem es nicht mehr klappt. In dem dann doch jemand eine verbale Bombe zum Thema Gendern, Veganismus oder Nahost fallen lässt. Dann ist Schluss mit der heiligen Harmonie. Dabei ist doch gerade die an Weihnachten mindestens so wichtig wie die perfekte Bratensauce.
Gesellschaft in klein
Natürlich ist es schon fast ein Klischee, ein rhetorischer Klassiker: "Streit an Weihnachten", Augenroll. Aber oftmals kommen nur noch am Weihnachtstisch verschiedene Generationen freiwillig zusammen. Es sind Stunden der Offenbarung. Jeder hat seine Meinung und verteidigt die so wütend wie das Recht aufs Fleischstück auf dem Festtagsteller. Kurzum: Wir haben hier einen Querschnitt der Gesellschaft auf Mikrolevel, nur mit mehr genetischer Übereinstimmung.
Ran an die verschwitzte Hand
Und was wünschen wir uns auch für die Gesellschaft? Ja, genau: Weniger Polarisierung, mehr Zusammenhalt. Wäre es dann nicht eine Lösung, überm Knödel Frieden zu schließen? Nach rechts die verschwitzte Hand ergreifen, deren Meinung einen gerade noch in die Fassungslosigkeit katapultiert hat? Links den Nebenmann an die Hand zu nehmen - irgendwie verwandt, irgendwie fremder als fremd? Sinnbild für: Wir dürfen nicht aufhören, mit allen zu reden. Sorry, aber nein.
Streit ist völlig in Ordnung
Ein Hoch auf den Diskurs! Ein Hoch auf den Streit! Der ist nicht heilig, der ist nicht friedlich. Der ist Stress, der nervt, der ist echt. Besser als falsche Verbundenheit und Harmonie auf Kosten von Authentizität: Wenn Zusammenreißen nicht mehr klappt: radikale Ehrlichkeit. Bald ist diese von der Realität losgelöste Zeit zwischen den Tagen vorbei. Bald geht's zurück. Zurück in den eigenen "safe space", in die eigene Blase, in den Alltag. Wir schaffen das jetzt. Und in 365 Tagen reden wir wieder.