Fast verhungert auf Sylt - wie konnte das passieren?

Stand: 11.02.2024 10:35 Uhr

Es ist ein außergewöhnlicher Fall: Die Leiterin der Sylter Tafel, ein Pastor und ein Arzt holen gemeinsam eine 93 Jahre alte Frau aus einer Obdachlosenunterkunft in Westerland und retten damit vermutlich ihr Leben.

von Simone Mischke

Eine 93 Jahre alte Frau wird im November vergangenen Jahres nach einem Sturz mit einem Beckenbruch in einer Husumer Klinik (Kreis Nordfriesland) behandelt und kommt danach zurück in die Obdachlosenunterkunft nach Westerland auf Sylt. Dort lebt sie seit 18 Jahren freiwillig. Die Sylterin hatte sich für ein Leben ohne festen Wohnsitz entschieden. Doch offenbar ist die Frau nach dem Unfall nicht mehr in der Lage, sich selbst zu versorgen. Über das, was passiert ist, reden wir unter anderen mit der Leiterin der Sylter Tafel, dem Pastor der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Westerland sowie der Vorsitzenden des Sozial- und Gesundheitsausschusses der Gemeinde Sylt. Mit der Betroffenen selbst allerdings nicht - aus Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand.

Leiterin der Sylter Tafel kümmert sich privat um Frau A.

Dörte Lindner-Schmidt, Leiterin Sylter Tafel. © Screenshot
Dörte Lindner-Schmidt, Leiterin Sylter Tafel, hat den Fall publik gemacht.

Die Leiterin der Sylter Tafel, Dörte Linder-Schmidt, kennt Frau A., seit sie selbst ein Teenager ist, bezeichnet sich als gute Bekannte. Deshalb kümmert sie sich auch seit vielen Jahren privat um sie: Sorgt unter anderem dafür, dass Frau A. Lebensmittel von der Tafel zur Unterkunft gebracht werden, weil sie selbst schlecht laufen kann. Lindner-Schmidt versteht deshalb auch nicht, warum Frau A. nach ihrer Entlassung aus der Husumer Klinik zurück in die Obdachlosenunterkunft gebracht wird, die von der Gemeinde Sylt betrieben wird. Eine Interview-Anfrage von NDR Schleswig-Holstein lehnt die Gemeinde ab, beantwortet aber einen umfassenden Fragen-Katalog schriftlich.

Widersprüchliche Aussagen zum Gesundheitszustand

Zum Beispiel die Frage, wer über die Entlassung aus der Geriatrie in Husum informiert wurde. Da heißt es: "Die Obdachlosenhilfe der Gemeinde Sylt wurde einige Tage vor ihrer Entlassung angerufen und darüber informiert. Auf Nachfrage zum Zustand wurde bestätigt, dass die Dame allein zurechtkommen könnte." Das widerspricht jedoch einer Aussage der Gemeinde zu der Frage, welche Maßnahmen der Leiter der Obdachlosenunterkunft unternommen habe, um sich nach dem Unfall um die 93-jährige zu kümmern: "(...) Am 21.11. nach der Entlassung aus der Geriatrie in schlechtem Zustand riet die Obdachlosenhilfe ihr, sich in ein Krankenhaus bringen zu lassen. (....)". Der Leiter der Obdachlosenunterkunft reagierte auf eine Interview-Anfrage von NDR Schleswig-Holstein nicht.

Den schlechten Zustand von Frau A. bestätigen sowohl Pastor Ulrich als auch Dörte Lindner-Schmidt: "Ich habe durch Zufall erfahren, dass sie wieder zurück in der Obdachlosenunterkunft ist. Als ich in ihr Zimmer kam, lag sie völlig hilflos in ihrem Bett. Hatte noch ihren Mantel an und ihre Habseligkeiten am Bett drapiert", sagt die Leiterin der Sylter Tafel.

93-Jährige wollte lange keine Hilfe

Dörte Linder-Schmidt zieht, auch für eine zweite Meinung, Pastor Simon Ulrich hinzu und bittet außerdem einen Sylter Arzt, sich Frau A. anzusehen. Demnach ist die Dame stark unterernährt, wiegt nur noch 35 Kilo. Der Arzt sorgt dafür, dass Frau A. kurzfristig in einer Pflegeeinrichtung unterkommt. Aus Datenschutzgründen seiner Patientin gegenüber will er sich nicht zu dem Fall äußern. Wie konnte es so weit kommen? "Frau A. hat einen starken Willen, einen großen Freiheitsdrang. Selbst zu entscheiden wo und wie sie lebt, das war das Wichtigste für sie", sagt Pastor Ulrich.

Umzug abgelehnt

Hilfsangebote gab es, auch von der Gemeinde, bestätigt Dörte Linder-Schmidt. Ihr wurde zum Beispiel der Umzug in eine ebenerdige Wohnung angeboten. Aber: "Allein die Tatsache, woandershin zu müssen, das wollte sie nicht." Auch in den letzten Tagen in der Obdachlosenunterkunft hat Frau A. nach Angaben der Gemeinde abgelehnt, sich in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Nach eigenen Angaben hat die Gemeinde ab dem 23. November die Betreuung deutlich erweitert, um die tägliche Versorgung sicherzustellen und im Bedarfsfall einzugreifen.

Tagelang ohne Essen

Simon Ulrich, Pastor evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Westerland. © Screenshot
Zusammen mit Pastor Ulrich holte Lindner-Schmidt Frau A. aus der Obdachlosenunterkunft.

Das können Dörte Linder-Schmidt und Pastor Ulrich allerdings nicht bestätigen: "Offenbar hatte Frau A. seit fünf, sechs Tagen keine feste Nahrung mehr zu sich genommen", so der Pastor. Einen Suizid-Versuch schließt Dörte Lindner-Schmidt aus. "Dazu war sie zu lebenslustig." Dennoch lehnt Frau A. bis kurz vor ihrer Abholung aus der Obdachlosenunterkunft auch gegenüber ihren beiden Vertrauten - Dörte Lindner-Schmidt und Pastor Ulrich - Hilfe ab. "Sie sagte immer, ich schaff' das schon, Dörte. Doch zum Schluss sah sie selbst ein, dass es nicht mehr geht."

Welche Verantwortung tragen die Gemeinde Sylt und der Kreis Nordfriesland?

Doch wer ist dafür verantwortlich, dass es überhaupt soweit kommen konnte? Der Kreis Nordfriesland ist Fachaufsichtsbehörde. Er antwortet auf eine Anfrage von NDR Schleswig-Holstein schriftlich: "(...) Unser Betreuungsamt stand wiederholt in Kontakt mit der Dame und besucht diese regelmäßig. Sie bestand immer wieder darauf, in der Unterkunft bleiben zu wollen. Zudem wollte sie auch ausdrücklich keine rechtliche Betreuung, die das Betreuungsamt angeregt hatte. In beiden Fällen handelt es sich um selbstbestimmte, eigene Entscheidungen der Dame. Diesem Wunsch und Willen gilt es, im Betreuungsrecht nachzukommen. (...)" Zudem sei es nicht Aufgabe der Ordnungsbehörde, also der Gemeinde Sylt, zu prüfen, ob es einer Person gut geht, die im Obdachlosenheim lebt.

Keine Ermittlungen wegen unterlassener Hilfeleistung

Anders wäre es, wenn die Gemeinde erfahre, dass Gefahr für Leben oder Gesundheit der betroffenen Person bestehe oder so etwas bei der Unterbringung absehbar sei. Dann, so die Behörde, müssten sowohl die Ordnungsbehörde aber auch jeder Bürger, der davon erfahre, einschreiten. Denn: Wer bei Unglücksfällen keine Hilfe leiste, macht sich strafbar. Wegen unterlassener Hilfeleistung werde aber nicht ermittelt, teilt die Staatsanwaltschaft Flensburg auf Anfrage von NDR Schleswig-Holstein mit. Der Kreis Nordfriesland antwortet auf eine entsprechende Anfrage, dass keine Beschwerden über die Obdachlosenunterkunft eingegangen seien und es keine Überprüfung gegeben habe.

Jahrelange Probleme mit der Sylter Obdachlosenunterkunft

Nachdem der Fall von Frau A. öffentlich geworden war, meldet sich auch die Vorsitzendes des Gesundheits- und Sozialausschusses, Ulrike Körbs (von der Partei "Die Insulaner"), zu Wort, spricht von jahrelangen Problemen mit der Obdachlosenunterkunft in Westerland. Auch im Zusammenhang mit Frau A., der nach NDR Informationen vor fünf Jahren der Zugang zur ebenerdigen Küche in der Obdachlosenunterkunft verwehrt wurde: nach Angaben der Gemeinde aus Sicherheitsgründen, da die Küche im Erdgeschoss nicht über einen Sicherheitsmechanismus zur Vermeidung von Brandrisiken verfüge.

Doch wenn die Probleme so lange schon bekannt sind: Hätte der Sozialausschuss nicht viel früher etwas unternehmen müssen? "Ja, da sind wir in der Verantwortung. Wenn wir von Beschwerden oder Unregelmäßigkeiten erfahren haben, haben wir versucht, dem nachzugehen. Aber es ist eben sehr oft von der Verwaltung geblockt worden", sagt Ulrike Körbs.

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Der 93 Jahre alten Frau geht es inzwischen nach NDR Informationen den Umständen entsprechend gut. Über den Umgang mit dem Vorfall in der Öffentlichkeit wundert sich Dörte Lindner-Schmidt: "Als wir die Punks hier hatten, die vielleicht gestört haben, aber sonst nichts weiter, da waren die sozialen Netze voll mit Meinungen dazu. Es gab einen bundesweiten Aufschrei. Jetzt haben wir hier diesen Fall, der so konkret ist, der hat tatsächlich wenig bewegt in dem Umfeld, das wir kennen. Ein anderes Thema wäre bundesweit mehr verbreitet worden. Das zeigt, man macht keinen Gewinn mit Obdachlosenberichterstattung", sagt Dörte Linder-Schmidt.

Dabei geht es ihr nicht darum, als Retterin gefeiert zu werden, sagt sie. Doch sie will, dass sich an den Strukturen der Obdachlosenhilfe etwas ändert - deshalb habe sie den Fall öffentlich gemacht. "Es gibt nicht den einen Schuldigen. Aber ich denke schon, dass sich jetzt an dem Konzept der Obdachlosen-Betreuung etwas ändern wird."

Wann muss man sich über den Willen eines Menschen hinwegsetzen?

Wer, was, wann versäumt hat - lässt sich nicht abschließend klären. Und es gibt auch keine einfachen Antworten auf die Frage: Wann muss eine Behörde oder auch jeder Einzelne eingreifen und sich über den Willen eines Menschen hinwegsetzen, um ihn zu schützen?

Dörte Linder-Schmidt und Pastor Ulrich sind sich einig: Man muss darüber reden und kann das nicht allein entscheiden. "Es ist ja gut, dass wir solche segensreichen Strukturen wie eine Obdachlosenunterkunft haben. Es ist aber auch wichtig, dass wir miteinander reden über das, was wir sehen, was wir hinter der Situation entdeckt haben. Und es wäre gut, wenn diese Kommunikation auch in den Hilfsangeboten verankert wäre", wünscht sich Simon Ulrich. Die Gemeinde Sylt hat schriftlich mitgeteilt, ihr bestehendes Konzept zur Obdachlosenunterkunft überprüfen zu wollen.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 10.02.2024 | 19:30 Uhr

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