Einschulung: Viele Erstklässler sind nicht reif genug

Stand: 04.09.2024 05:00 Uhr

Sich an Regeln halten, Erwachsenen zuhören, die eigenen Bedürfnisse zurückstellen: All das fällt immer mehr Schulanfängern schwer. Grundschulen in Schleswig-Holstein beklagen, dass deshalb Zeit für das eigentliche Lernen verloren geht.

von Marlen Hildebrandt

Die Einschulung ist ein echter Meilenstein - für Kinder und Eltern, aber auch für Lehrer. Kirsten Steffen ist seit mehr als 20 Jahren Grundschullehrerin in Großhansdorf (Kreis Stormarn) und freut sich auf ihre erste Klasse - doch sie weiß: Viele Kinder kommen heute mit ganz anderen Voraussetzungen zur Schule als früher. Viel mehr Mädchen und Jungen brauchen eine individuelle Förderung. So hätten sich beispielsweise in den letzten Jahren die Konzentrationsphasen vieler Kinder deutlich verkürzt, sagt Steffen. Heute müsse sie viel öfter Bewegungspausen in den Unterricht einbauen. Auch sei sie häufiger damit beschäftigt, Streitigkeiten zwischen Kindern zu klären. Selbst vermeintlich einfache motorische Fähigkeiten wie den Stift halten oder die Schere richtig benutzen müssten heute in der Schule gelernt werden. Zeit fürs Lesen, Rechnen oder Schreiben gehe dadurch verloren.

Kitas stoßen bei der Vorschularbeit an ihre Grenzen

Sich zu fokussieren, zu konzentrieren, etwas anzufangen und zu beenden: Dass dies für viele Kinder in der Grundschule zum Problem werden wird, zeigt sich oft schon im Kindergarten. Denn immer häufiger stoßen Erzieher in den Kita-Einrichtungen an Grenzen, wie Christina Künne berichtet, die Vorsitzende der Vereinigung der Kitaleitungen in Schleswig-Holstein. Das spielerische Lernen von wichtigen Kompetenzen sei zeitlich und durch den gegebenen Personalschlüssel teilweise nicht mehr zu schaffen. Denn mittlerweile müssten Kitas Aufgaben übernehmen, die vor ein paar Jahren noch Familiensache gewesen seien. Als einfaches Beispiel nennt sie, gemeinsam den Tisch zu decken, zusammen zu essen und einfach über den Tag zu sprechen. Auch das habe etwas mit Schulreife zu tun, sagt Künne, finde jedoch in vielen Familien immer weniger statt.

Schuleingangsuntersuchungen machen Defizite sichtbar

Dass es immer mehr Kindern an sozialer Reife fehlt, zeigt auch eine Umfrage, die NDR Schleswig-Holstein unter den 15 Gesundheitsämtern im Land durchgeführt hat. Diese sind zuständig für die Schuleingangsuntersuchungen, die Aufschluss darüber geben, ob ein Kind schulreif ist. Elf Gesundheitsämter haben sich an der Umfrage beteiligt, und mehr als die Hälfte von ihnen bestätigen, dass bei Kindern Defizite unter anderem in den Bereichen Konzentration, Verhalten und Sprache zunehmen.

So berichtet beispielsweise das Gesundheitsamt des Kreises Plön, dass die Untersuchungen heute länger dauern, weil Kinder weniger Kenntnisse mitbringen und Aufgaben ausführlicher erklärt werden müssen. Auffällig sei auch, dass die Kurzsichtigkeit zunehme. Stichworte: Smartphone und Computer. Ein Grund für schwächere Augen könnte sein, dass Kinder heute seltener in die Ferne blicken und sich weniger im Freien aufhalten, so die Ansicht der Gesundheitsexperten.

Kinder haben zu wenig Bewegung

Auch der Verband der Kinderärzte bemängelt, dass Kinder heute zu früh und zu lange vor Bildschirmen sitzen. Die Gefahr werde unterschätzt, meint der Landesvorsitzende der Kinder- und Jugendärzte Ralf van Heek. Der frühe Medienkonsum habe Auswirkungen auf das Sozialverhalten und die Sprache, außerdem hätten Kinder dadurch natürlich auch einen Mangel an Bewegung. Die wenigsten könnten heute noch eine Rolle vorwärts oder einen Hampelmann. Und wenn Kinder es nicht gewohnt seien sich zu bewegen, erklärt van Heek, dann falle auch das Sitzen auf dem Stuhl schwer. Es brauche die Abwechslung - und am Ende wirkten sich diese Themen auch auf das Sozialverhalten aus.

Kaum noch Zeit für das eigentliche Lernen

Als weiteren großen Punkt nennen Kinderärzte die Migration. Viele Einrichtungen seien überfordert, die Sprachbarrieren hoch, hinzu kommen die unterschiedlichen Kulturen. Veränderte Familienstrukturen und die herrschenden Engpässe in der Kita-Betreuung seien ebenso als Gründe für die vorhandene sozial-emotionale Unreife von Erstklässlern zu sehen, sagt van Heek.

Für die Grundschulen in Schleswig-Holstein bedeutet all das unter dem Strich: Sie sind gefordert, noch stärker auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Deshalb sehen sich heute einige Lehrer eher als Vermittler sozialer Kompetenzen denn von Wissen. Zeit fürs eigentliche Lernen gehe in jedem Fall verloren, beklagen Grundschullehrerinnen wie Kirsten Steffen.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 03.09.2024 | 19:30 Uhr

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