Dragqueen Veuve Noire liest Kindern vor - und kämpft so für Toleranz
Dragqueen Veuve Noire aus St. Pauli liest in Kitas Kinderbücher vor oder klärt in Schulen auf. Zum ersten Mal wurde sie jetzt von einer Stadtbibliothek eingeladen. Die Situation in Bargteheide war besonders.
"Wir sind zwar eine kleine Bibliothek in Bargteheide (Kreis Stormarn), aber dass heißt ja nicht, dass man den Fokus nicht auf Vielfalt legen kann", sagt die Leiterin der Stadtbibliothek, Vanessa Pöpper. Hinten auf ihrem Pullover steht Captain, hierarchisch geht es hier aber ganz und gar nicht zu. Die gesamte Belegschaft freut sich auf den Besuch aus St.Pauli, sie haben die Dragqueen Veuve Noire eingeladen. Im Rahmen des Projekts "Olivia macht Schule" soll die Drag das Kinderbuch "Keine Angst in Andersrum" der Hamburger Dragqueen Olivia Jones für Kinder zwischen drei und acht Jahren vorlesen.
Doch zu Beginn der Veranstaltung kommen keine Kinder, die erste Reihe mit den kleinen Höckerchen bleibt leer. Veuve Noire schwenkt kurzerhand für das Publikum um, macht eine Mischung aus Aufklärungsrunde und Geschichten aus ihrem Leben. Dabei hätte die Dragqueen es toll gefunden, wenn Kinder gekommen wären, auch für die anderen Erwachsenen. "Kinder haben auf jeden Fall immer eine ganz, ganz große Vorbildfunktion, weil sie noch nicht werten. Das ist das Schöne."
Die, die Angst haben, fehlen in Bargteheide an diesem Tag
Veuve Noire erzählt dem Publikum von gewaltätigen Übergriffen, Ausgrenzung und den Gedanken an Suizid. Noch immer sei die Gesellschaft nicht so weit, dass Homosexualität oder das Thema Anderssein wirklich akzeptiert und selbstverständlich gelebt werde. Deswegen sei es so wichtig, in frühen Jahren schon aufzuklären, Hass zu minimieren und natürlich auch Mutmacher und Kraftgeber zu sein, so die Dragqueen. Es geht aber auch darum, den Jüngsten schon die Angst zu nehmen, ein positives Erlebnis wie eine Lesung mit einem geschminkten Mann zu erleben, damit sie später, wenn sie eine Drag oder einen geschminkten Mann sehen, schon positive Assoziationen haben.
Kopfschütteln, als die Drag erzählt, wie sie um ihr Leben rennt
Es gibt Kopfschütteln im Publikum, als Veuve Noire erzählt, dass sie oft um ihr Leben rennen musste. Manche können sich kaum mit ihren Fragen zurückhalten. Bei der anschließenden Fragerunde entsteht eine Diskussion über Toleranz und Vielfalt. Die Interessierten haben selbst Beispiele aus dem Umfeld, wo das Anderssein zur Ausgrenzung führt. Eine ältere Dame erwähnt den Fussball: "Würde sich dort ein Junge outen, wäre das eine Anklage an die gesamte Mannschaft", sagt sie.
Die anderen Teilnehmenden nicken. Die Jugendlichen im Publikum sind am kunstvollen Makeup interessiert und freuen sich über die Abwechslung in ihrer Stadt: "Ich bin extrem erstaunt, weil normalerweise ist hier echt tote Hose in Bargteheide", sagt Jonna. Etwas verspätet kommt dann doch noch eine Mutter mit drei Kindern - die einzige Familie an diesem Nachmittag. Als Veuve Noire sieht, dass Marta Klumbies und ihre Kinder zum Publikum dazustoßen, wird sofort die Wortwahl angepasst, keine selbstironischen Witze mehr und leichte Sprache, damit auch die Kleinen mitkommen.
Erstklässlerin Sarah hört in der zweiten Reihe gebannt zu
Marta Klumbies hat es nicht früher geschafft, hatte sogar noch versucht, andere Eltern zu überzeugen mitzukommen, doch entweder wollten oder konnten diese nicht, bei manchen war es wohl auch Desinteresse. Das sei eben auch Bargteheide, sagt sie. Die Stadt werbe zu wenig für solche Veranstaltungen und auch das Angebot müsste größer sein. Klumbies würde sich freuen, wenn so eine Lesung auch in Kitas stattfinden würde. "Ich finde es nötig, also generell nötig. Nicht nur hier, sondern überhaupt das Heranführen an queere Themen finde ich sehr wichtig".
Ihre Tochter Sarah ist gerade in die Schule gekommen, sie hat gespannt die Diskussion verfolgt. Toll sei es gewesen, den anderen zuzuhören und was sie erzählt haben, sagt Sarah. Während der Veranstaltung klammert sie sich mit beiden Händen an den Stuhl in der zweiten Reihe, macht den Rücken ganz gerade, um etwas zu sehen, und hört gebannt zu.
Besucherin: Bargteheide hat solche Veranstaltungen "bitter nötig"
Die ehemalige Kitamitarbeiterin Cornelia Untiedt, ebenfalls im Publikum, wohnt seit 20 Jahren in Bargteheide. Sie sagt, sie liebe ihre Stadt, lebe gerne hier, aber es sei doch sehr konservativ und Bargetheide hätte solche Veranstaltungen bitter nötig. "Das würde auch die Toleranz erweitern", sagt Untiedt. Einig ist sich das Publikum darin, dass vor allem Menschen, die Berührungsängste hätten, an diesem Abend gefehlt haben - doch genau die müsste man erreichen. Doch umso ländlicher, desto größer sei oft noch die Scheu. "Hier ist die Angst dem Thema gegenüber tatsächlich etwas größer als zum Beispiel in einer Großstadt. Hier sind sie teilweise noch sehr schlecht aufgeklärt, was das Thema angeht", sagt Veuve Noire.
Vorwurf der "Frühsexualisierung" aus dem rechten Spektrum
Veuve Noire ist sonst in Schulen und Kitas unterwegs - auf Wunsch der Institutionen, die sie einladen. Dort will sie Ängste abbauen, stellt sich den Fragen der Jugendlichen und Kinder. Recht schnell sei der Vorwurf der "Frühsexualierung" aus dem rechten Spektrum gekommen. Das schürt Ängste bei Eltern, besonders in konservativen Kreisen. "Egal welche Form von Aufklärungsarbeit wir machen, wir reden niemals über das Thema Sex. Darum geht es auch nicht. Es geht um Liebe", sagt die Dragqueen. Sie wolle jungen Menschen Mut machen, zu sich selbst zu stehen, sieht sich als Botschafterin für Vielfalt. Das Projekt würde "Olivia macht Schule" und nicht "Olivia macht Schwule" heißen, das müssten die Menschen verstehen.
Erziehungswissenschaftler: Kinder haben gleichwertiges Recht auf Bildung
"Es gibt eine gesetzliche Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt. Und Kinder haben ein gleichwertiges Recht auf Bildung, Selbstentfaltung und Teilhabe", sagt Professor Tamás Jules Fütty vom Institut für Erziehungswissenschaften der Uni Flensburg. Grundlegende Rechte seien demnach unter anderem zeitgemäße Bildung, Selbstentfaltung und Schutz vor Gewalt. Und: Je mehr Bildung die Kinder und Jugendlichen hätten, desto besser könnten sie sich vor Gewalt schützen, weil sie beispielsweise ihre Rechte kennen.
"Diese Aufklärungsarbeit zu Vielfalt gibt es ja auch schon seit Jahrzehnten. Es ist schon interessant, dass es da jetzt so viel Aufregung zum Beispiel bei Dragqueens gibt", sagt Fütty. Man müsse auch mal ganz banal festhalten, dass es nur um eine Lesung geht. Zudem käme das Thema nicht von außen zu den Kindern, sondern wäre bereits in den Schulen. "Das bestätigen uns auch die Lehrkräfte", sagt der Professor.
Die Stadtbibliothek Bargteheide will weiter Veranstaltungen zum Thema Vielfalt anbieten, der Bedarf in Bargteheide sei da.