Angelman-Syndrom: Aus dem Leben mit einem behinderten Kind

Stand: 09.02.2023 07:52 Uhr

Vor knapp zwei Jahren erhält Familie Walter aus Kiel für ihr Kind die Diagnose Angelman-Syndrom. Jeden Tag aufs neue stellen sie sich der Herausforderung, die ein Alltag mit einem Kind mit Behinderung mit sich bringt.

von Lisa Pandelaki

Es ist ein Tag im April 2021. Inga und Fabian Walter sitzen nachmittags mit ihren Söhnen Johann und Otto auf dem Sofa, im Fernsehen läuft Fußball. Plötzlich beginnt der damals fast zweijährige Johann zu krampfen, läuft blau an. "Ich dachte erst, er hätte seine Zunge verschluckt", erinnert sich sein Vater Fabian. Er versucht, den Mund seines Sohnes zu öffnen, um ihm zu helfen. Ohne Erfolg. Nach etwa sechzig Sekunden, die sich für das Paar wie Stunden anfühlen, hört der Anfall auf. Kurz darauf trifft der Notarzt ein. Wegen der Coronamaßnahmen darf nur Fabian mit ins Krankenhaus fahren, Inga bleibt mit dem drei Wochen alten Otto zu Hause. "Stirbt mein Kind heute?", fragt Fabian die Ärzte im Krankenhaus. Sie können ihn beruhigen: Johann wird leben. Er hatte einen epileptischen Anfall, ein typisches Symptom des Angelman-Syndroms. Das ist die Diagnose, die die Familie an diesem Tag erhält.

Verbale Kommunikation nur eingeschränkt möglich

Sie erfahren: Das Angelman-Syndrom ist eine genetische Veränderung auf Chromosom 15. Das Syndrom betrifft nur eines von 15.000 Kindern. Betroffene Kinder entwickeln sich körperlich und geistig verzögert weiter und können zum Teil gar nicht sprechen. Auch Johann kann nicht sprechen und nur sehr eingeschränkt nonverbal kommunizieren. Er kann seinen Oberkörper recht gut aufgerichtet halten, jedoch nicht Laufen. Drei Mal täglich bekommt er Medizin, die epileptische Anfälle vorbeugen soll. Trotzdem muss er rund um die Uhr betreut werden. Seine Lebenserwartung ist durch das Syndrom allerdings nicht eingeschränkt: Das ist viel wert für Familie Walter.

Schon frühe Entwicklungsverzögerungen

Familie Walter wohnt in einer knapp 80 Quadratmeter großen, hellen Wohnung im Kieler Stadtteil Hassee. Vor einem halben Jahr sind sie hierher gezogen. Das Haus hat einen Fahrstuhl und ein barrierearmes Badezimmer. Im Wohnzimmer steht Johanns orthopädischer Stuhl mit am Esstisch. Neben den bodentiefen Fenstern in der anderen Ecke des Zimmers steht ein E-Piano, zwei Gitarren hängen an der Wand. Auf der Kommode steht ein Babyfon, auf dessen kleinen Monitor Johann in seinem Pflegebett zu sehen ist. Im Hintergrund läuft Musik von Mark Forster.

Dass der heute fast Vierjährige nicht ganz so ist wie andere Kinder seines Alters, stellte Inga schon wenige Monate nach der Geburt fest. "Ich hab immer Benachrichtigungen auf mein Handy bekommen, welche Entwicklungsschritte jetzt dran sind und das hat nicht zu Johann gepasst", erinnert sich die 30-Jährige. Anderthalb Jahre lang weiß die Familie nicht, was genau ihrem Sohn fehlt, bis zu dem Tag im April. Die Diagnose ist für das Paar eine Erleichterung, denn endlich können sie die Entwicklungsverzögerung einordnen und aktiv werden. Es folgen eine Odysee von medizinischen Untersuchungen, Physiotherapie und Frühförderung, eine Flut von Anträgen, Ablehnungen und Widersprüchen.

Lange Liste möglicher Symptome

Es ist Zeit für Johanns Frühstück. Das isst er am liebsten in der Sofaecke. Löffel für Löffel füttert Inga ihn dort mit Fruchtbrei. Das ist so ziemlich das Einzige, das Johann isst. Damit sein Körper trotzdem alles bekommt, was er braucht, bekommt er zusätzlich eine mit Nährstoffen versetzte Flüssigkeit. Nach dem Frühstück trägt Inga Johann in sein Zimmer und zieht ihn an. Er ist unruhig, fuchtelt viel mit den Armen. Ein Spaziergang könnte ihn beruhigen. Und so geht es los. Mit am Buggy hängt eine Bluetooth-Box: Musik beruhigt Johann, vor allem die von Mark Forster.

Viel Papierkram

Jeden Tag beschäftigen sich Inga und Fabian etwa 45 Minuten mit zusätzlichem Papierkram. Die Kommunikation mit Krankenkasse und Ämtern ist herausfordernd. "Da sind Sie hier leider nicht richtig" ist einer der Sätze, die das Paar bei Telefonaten oft hört. Einige Anträge haben die Mitarbeiter von Krankenkassen und Ämtern schlicht noch nie bearbeitet. Und jeder Antrag will gut begründet sein. Beim Antrag für einen Spezial-Buggy waren beispielsweise Fotos mehrerer verbogener Buggys nötig. Die für Kleinstkinder konzipierten Buggys waren durch das Gewicht des inzwischen 18 Kilo schweren Vierjährigen in Mitleidenschaft gezogen worden.

Auto auf Kredit gekauft

Von Antragstellung bis zur tatsächlichen Leistungserbringung vergehen oft bis zu sechs Monate. Das alles bringt neben der hohen Belastung im Alltag eine zusätzliche finanzielle Belastung mit sich. Zwischenzeitlich lebt die Familie ausschließlich von Fabians Gehalt als Mitarbeiter beim Jugendamt. Reserven wurden durch den Umzug aufgebraucht. Das neue Auto, das die Familie dringend braucht, um Johann weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilhaben lassen zu können, haben sie auf Kredit gekauft.

Entspannung ist kaum möglich

Inga Walter sitzt mit ihren Söhnen Johann und Otto auf dem Sofa. © NDR Foto: Lisa Pandelaki
Obwohl der Alltag herausfordernd ist, wollen Walerts Johann das Leben ermöglichen, das jedes Kind verdient.

Die Familie spaziert die Eider entlang. Doch auch draußen bleibt Johann unruhig. Erst will er aus dem Buggy raus und auf den Arm, dann wieder rein, wieder raus, wieder rein. Inga und Fabian bleiben entspannt, versuchen Johanns Bedürfnisse zu erraten. Auch Otto will getragen werden, dann unbedingt eine Treppe hoch, dann läuft er vor, fällt hin und will auf Fabians Schulter. Entspannung im Alltag ist für die Familie eher eine Seltenheit, obwohl sie ein gutes soziales Netz hat. Trotzdem wollen Inga und Fabian nicht den Fokus verlieren, wie sie betonen. Der Fokus liege auf dem Menschen und nicht auf der Behinderung. "Johann ist ein sehr offener Mensch, ein fröhlicher Menschen, ein sehr ehrliches Kind und er ist absolut lustig", sagt Inga und lacht dabei. "Johann ist für uns ein Vorbild", erklärt Fabian. "Weil er ehrlich ist." Johann habe ihre Sicht auf die Welt verändert. "Es ist für uns schön zu sehen, dass man ehrlich sagen darf, was man gut findet und was man richtig blöd findet. Wenn es nach außen hin nicht funktioniert, dann eben nicht. Wir sind anders und das ist OK", erklärt Inga.

Hilfe zu bekommen, ist ein riesiger Akt

Nach dem Spaziergang legt sie Johann wieder in sein Bett. Dort kommt er dann zur Ruhe. Zurück im Wohnzimmer zeigen sie und Fabian einen dicken Ordner mit Arztbriefen, Anträgen und Begründungen. Gerade in der Kommunikation mit den Ämtern gäbe es einiges, was ihnen ihr Leben erleichtern könnte. "Ich würde mir wünschen, dass wir uns die Informationen nicht selber aneignen müssten, um dann zu erfragen, ob das denn so stimmt und wie man das umsetzen kann", erzählt Fabian. Eine große Erleichterung könne es auch sein, wenn die Behörden untereinander besser kommunizierten und zusammenarbeiteten würden, meint er. "Ich wünsche mir Ansprechpartner, die einem helfen möchten und nicht erst immer "Nein" sagen", sagt Inga.

An dem Abend nach dem Erhalt der Diagnose vor fast zwei Jahren bricht sich die Enttäuschung über alles was nicht sein wird bei dem Paar Bahn. Es fließen Tränen. Doch schon am nächsten Morgen richtet das Ehepaar den Blick nach vorne, auf das, was sie haben und auf das was sie an Johann haben. Welche Herausforderung als nächstes auf sie wartet, wissen sie nicht, doch sie werden sich ihr stellen, sagen sie. Für Johann. Denn auch wenn ein Leben mit einem Kind mit Behinderung anstrengend ist und sie als Menschen und als Paar oft an ihre Grenzen bringt, können sie es sich nicht mehr anders vorstellen. "Wer will schon normal sein? Normal ist doch langweilig", lacht Fabian.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 10.02.2023 | 19:30 Uhr

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