Gebärdensprache: Gehörlosenverbände fordern Unterrichtsfach
Am Sonntag war der Tag der Gehörlosen. Seit 50 Jahren ist das Landesbildungszentrum in Osnabrück Anlaufstelle für Hörgeschädigte. Hier würde man den Kindern auch gerne mehr Gebärdensprache beibringen. Doch das ist in Niedersachsen nicht vorgesehen.
Wenn es laut ist, der Verkehr dröhnt, die Nachbarn Krach machen oder die Mitschüler quatschen, dann ist es schon für Hörende oft nicht leicht, alles Wichtige zu verstehen. Menschen mit einer Hörbehinderung haben es da deutlich schwerer. Die neunjährige Ida Strunk aus Osnabrück besucht die Grundschule im Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte (LBZH). Das Hören ist bei ihr in den vergangenen Jahren nach und nach immer schlechter geworden. Alle Tests bei ihr als Baby waren noch unauffällig, erinnert sich ihre Mutter Carolin Strunk. Als Kleinkind lernte ihre Tochter aber gar nicht richtig sprechen. Und da wurde allen klar: Ida braucht Hilfe. Mit dreieinhalb Jahren bekam sie ihr erstes Cochlea-Implantat. "Davon hat sie enorm profitiert, auch von der guten Förderung im LBZH-Kindergarten." Aber die Schwerhörigkeit wurde stärker. Vor einem Jahr hat Ida deshalb auch auf der anderen Seite ein Implantat bekommen. Das konnte sie schon mitentscheiden und sie bereut den Entschluss nicht. "Dadurch kann ich besser hören und sprechen", sagt sie.
Norddeutsche Alltagssprache in Gebärden:
Klassenraum mit besonderer Technik
Im Unterricht hilft ihr zusätzlich eine drahtlose akustische Übertragungsanlage im Klassenraum. Ihre Lehrerin verbindet darüber direkt ihr Mikrofon mit dem Implantat. So landet das Gesagte direkt in Idas Ohr, ohne Störgeräusche. Neben der Technik achtet Idas Lehrerin auch darauf, dass sich alle in der Klasse sehen können, dass es hell genug ist und dass das Hören nicht zu anstrengend wird. "Hörpausen zwischendurch sind wichtig für die Kinder", sagt Jutta Falkenberg. Die Technik ist für die neunjährige Ida ein Gewinn. Aber die kann auch mal ausfallen. Auch beim Duschen oder Schwimmen nimmt sie ihre Implantate lieber ab - dann gebärdet sie. Genauso macht sie es, wenn sie sich mit ihrer Freundin trifft, die nur mit Gestik und Mimik kommuniziert.
Gebärdensprache im Stundenplan
Für sie und ihre Eltern sind das Gründe genug, dass Ida auch die Deutsche Gebärdensprache (DGS) lernen soll. Auch Markus Westerheide hält das für sinnvoll. Er ist Direktor des Landesbildungszentrums in Osnabrück. Das Problem: Unterricht in DGS kann er aber nur den Grundschulkindern anbieten. Denn nur da kann er entsprechende Förderstunden nutzen. Ab der fünften Klasse geht das nicht mehr. Dabei ist Gebärdensprache durchaus komplex - mit eigener Grammatik und sogar mit Dialekten. 2002 wurde sie als eigenständige Sprache gesetzlich anerkannt. Doch im offiziellen Lehrplan in Niedersachsen ist DGS nicht vorgesehen. Das bedeutet, dass die Lehrkräfte in anderen Fächern neben dem eigentlichen Unterricht den Schülerinnen und Schülern auch noch die Gebärdensprache beibringen müssen: "Wir bieten Französisch und andere Fremdsprachen an, aber DGS ist im Fächerkanon nicht enthalten, das ist sehr schade."
Der Gehörlosenverband Niedersachsen fordert das schon lange. Gemeinsam mit anderen Verbänden hat er sich damit im vergangenen Jahr an die Landesregierung gewandt. Darunter auch das Niedersächsische Institut für die Gesellschaft Gehörloser und Gebärdensprachen (NIGGGS). Dessen Vorsitzender Thomas Sodomann bedauert, dass sich die Landesregierung bislang nicht bewegt. "Wir Hörgeschädigte fühlen uns da vernachlässigt", sagt Sodomann.
Kultusministerium plant Einführung aktuell nicht
Das niedersächsische Sozialministerium kennt das Anliegen der Verbände, wie die Pressestelle auf Anfrage des NDR mitteilt. Im Sozialministerium seien zu diesem Thema bereits eine Arbeitsgruppe gebildet und ein Lehrplan-Entwurf erarbeitet worden. Als nächster Schritt sei die Bildung einer Arbeitsgruppe zwischen den Schulen und dem Ministerium geplant. "Derzeit befinden wir uns im Prozess. Ob es zu einer Einführung kommt, ist derzeit völlig offen." Das Kultusministerium antwortet deutlich knapper. Dort heißt es: "Gegenwärtig ist in Niedersachsen nicht geplant, das Fach DGS in den Lehrplan aufzunehmen. Das Land befindet sich mit den Verbänden allerdings in einem engen und konstruktiven Austausch." Dass es auch anders geht, zeigen andere norddeutsche Bundesländer wie etwa Hamburg. Die Deutsche Gesellschaft der Hörbehinderten hat alle Bundesländer verglichen. Demnach haben fünf Bundesländer einen Lehrplan für DGS, drei planen ihn.
Je früher Hörprobleme erkannt werden, desto besser
Wie notwendig die Deutsche Gebärdensprache ist, wird auch in der Berufsschule des Landesbildungszentrums deutlich. Neben einer Einrichtung in Hildesheim ist sie die einzige Berufsschule für Hörbehinderte in Niedersachsen. Die 18-jährige Gabriela Cociug hat erst hier durch alltagsnahen, praktischen Unterricht gelernt, sich überhaupt mitzuteilen. "In meiner Familie sind alle hörend, alle sprechen dort. Das ist für mich sehr schwierig. Denn ich bin die einzige Gehörlose. Es ist sehr schön, dass ich mich jetzt mit Freunden unterhalten kann. Dass ich da eine Sprache habe." Ihre Familie stammt aus Moldawien. Ihrer Mutter liest sie die Wörter von den Lippen ab. Seit sie in Osnabrück Gebärden lernt, kann sie sich auch mit anderen Menschen verständigen.