Die unentdeckte Mordserie eines Pflegers
22. Juni 2005: Dieter M. liegt auf der chirurgischen Intensivstation im Klinikum Delmenhorst. Der 63-Jährige ist schwer krank, die Beatmungsmaschine pumpt Luft in seine Lungen. Er kämpft um sein Leben. Gegen 13.30 Uhr betritt Niels H. das Krankenzimmer. Der damals 28-jährige Krankenpfleger injiziert dem Patienten 40 Milliliter Gilurytmal. Kein Arzt hat die Gabe dieses gefährlichen Herzmedikaments angeordnet, denn bei dieser hohen Dosierung führt es zum Herzstillstand. Genau das beabsichtigt Niels H.: Er will das Herzkreislaufsystem von Dieter M. kollabieren lassen, um hinterher bei der Wiederbelebung als Held da zu stehen.
Nicht zum ersten Mal, in Delmenhorst soll Niels H. über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren reihenweise Patienten umgebracht haben, um bei Reanimationen im Mittelpunkt zu stehen. Doch an diesem Juni-Tag im Jahr 2005 wird er von einer Krankenschwester auf frischer Tat ertappt. Für diesen Mordversuch wird er drei Jahre später zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. In der Urteilsbegründung heißt es: "Das Schicksal des Patienten stand für ihn nicht im Vordergrund. Es kam ihm nicht darauf an, den Patienten zu retten, sondern sein 'handwerkliches Können' auf dem Gebiet der Reanimation vorzuführen."
Ein schwerwiegender Verdacht
Angeklagt ist damals nur diese eine Tat. Kurt Schwender ist 2005 Oberarzt auf der chirurgischen Intensivstation. Gleich nach der Tat hat er einen schwerwiegenden Verdacht: "Es war mit sofort klar, dass der bei viel mehr Patienten sowas gemacht hat, der war ja bei vielen Reanimationen dabei." Dieser Verdacht treibt den Oberarzt um. Er untersucht die Sterbedaten und den Verbrauch des Herzmedikaments Gilurytmal. Das Ergebnis ist erschreckend. Während der zweieinhalb Jahre, die Niels H. auf der Intensivstation tätig war, starben mehr als 400 Menschen. Gemessen am langjährigen Durchschnitt hätte nur etwa die Hälfte sterben dürfen. Im gleichen Zeitraum stieg der Verbrauch von Gilurytmal auf das siebenfache an. Schwender geht davon aus, dass Niels H. mehr als 100 Menschen auf dem Gewissen haben könnte - weit mehr als jeder andere Serienmörder in der Geschichte der Bundesrepublik.
Keine Hinweise auf konkrete Taten?
Der Arzt gibt seine Daten an die Kripo in Delmenhorst weiter. Die Beamten ermitteln, bestätigen die Verdachtsmomente und geben den Fall an die Staatswanwaltschaft in Oldenburg. Der damals zuständige Staatsanwalt sieht keinen weiteren Ermittlungsbedarf. Er legt den Fall zu den Akten. Es gäbe keine Hinweise auf konkrete Taten. Erst drei Jahre nach der Tat, im Jahr 2008 kommt wieder Bewegung in den Fall. Kathrin Lohmann erfährt aus der Zeitung, dass Niels H. im Revisionsverfahren wegen Mordversuchs zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt wird. Sie erinnert sich, dass ihre Mutter auf der Delmenhorster Intensivstation unerwartet an Herzversagen starb. Auch sie wendet sich an die Delmenhorster Kripo. Die Beamten finden heraus, dass Niels H. zum Todeszeitpunkt Dienst hatte. Abermals verfolgt die Staatsanwaltschaft den Fall nicht weiter.
Daraufhin wendet sich Kathrin Lohmann selbst an die Staatsanwaltschaft. Zunächst ohne Erfolg: "Die Staatsanwaltschaft hat mir wörtlich gesagt, ob sich das lohnen würde, meine Mutter noch zu exhumieren. Das sind dann ja immerhin auch Kosten, die dann anfallen." Aber Lohmann lässt nicht locker. Immer wieder ruft sie bei der Staatsanwaltschaft an. Schließlich erreicht sie, dass ihre Mutter exhumiert wird. In den sterblichen Überresten wird Gilurytmal nachgewiesen.
Regelrechtes Ermittlungsdesaster
Sieben weitere Leichen werden ausgegraben. Bei vier von ihnen wird der Wirkstoff nachgewiesen. Weitere Fälle verfolgen die Ermittlungsbehörden nicht. Obwohl noch mehr als 100 Tote auf das Konto von Niels H. gehen könnten. Erst als der Pfleger im September vergangenen Jahres der Prozess gemacht wird, wird das Ermittlungsdesaster bekannt. Durch den öffentlichen Druck sieht sich die Staatsanwaltschaft genötigt, endlich umfassend zu ermitteln. Momentan prüft sie 174 Verdachtsfälle. Und mittlerweile wird sogar gegen die Staatsanwaltschaft Oldenburg selbst ermittelt. Es besteht der Anfangsverdacht der Strafvereitelung im Amt.
Schon in Oldenburg auffällig
Die Mordserie könnte noch früher begonnen haben. Vor seiner Tätigkeit in Delmenhorst arbeitet Niels H. im Klinikum Oldenburg. Durch die Presseberichte aufgeschreckt, gibt die Klinikleitung ein Gutachten in Auftrag. Das Ergebnis verkündet Klinikleiter Dirk Tenzer: "Auch bei uns hat es zwölf Sterbefälle gegeben, bei denen alles darauf hindeutet, dass es ein Eingreifen von außen gegeben hat."
Schon in Oldenburg ist Niels H. auffällig. Bei Reanimationen drängt er sich immer wieder in den Vordergrund. So sehr, dass ihm nahe gelegt wird, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Den findet Niels H. in Delmenhorst. Von den Auffälligkeiten in Oldenburg erfahren die Delmenhorster nichts. Kein Hinweis, kein Telefonanruf, stattdessen bekommt H. ein gutes Arbeitszeugnis. Kurt Schwender ist überzeugt, hätte er ein anderes Arbeitszeugnis von Nils H. bekommen, hätte dieser nie in Delmenhorst angefangen zu arbeiten.