"Wenn jemand Grenzen überschreitet, kann ich auch austeilen"

Stand: 23.01.2023 06:14 Uhr

Jahrelang hat Julia Willie Hamburg angeprangert, was besser werden muss in der Bildung, jetzt ist sie selbst zuständig. Wie geht sie ihre Aufgabe als Kultusministerin an? Ein Porträt.

von Sophie Mühlmann

Heute besucht sie ihre ehemalige Grundschule in Hannover-Herrenhausen. Sie will ein Zeichen setzen: Wir sehen Euch und Eure Probleme, die Grundschulen sind nicht weniger wert als die Gymnasien im Land. Der Besuch ist aber auch eine Reise in die Vergangenheit.

Ungerechtigkeit als Antrieb, etwas verändern zu wollen

Sie zeigt uns die Mauer, über die die kleine Julia geklettert ist, um manchmal den langen Schulweg abzukürzen - immer voller Sorge, erwischt zu werden, denn das war ja gegen die Regel. Wie sie im Chor gesungen hat und im Kunstunterricht nur eine Drei hatte, weil sie immer über die Linie gemalt hat. Sie ist eingeladen im Kinderrat der Grundschule, der zufällig genau in ihrem alten Klassenzimmer abgehalten wird. "Warum bist Du Kultusministerin geworden?", fragt ein kleiner Abgeordneter, und sie erklärt ihre Motive in kindgerechter Sprache. "Doof" habe sie es immer gefunden und ungerecht, dass manche Menschen mehr Glück und mehr Unterstützung haben als andere. Dass einige Kinder tolle Stifte dabeihatten und andere eben nicht, oder Hilfe bei den Hausaufgaben. Schon da habe sie sich gewünscht, etwas verändern zu können.

Jüngste Abgeordnete im Niedersächsichen Landtag

Julia Willie Hamburg ist 36 Jahre alt und in Hannover geboren. Mit ihrem Lebensgefährten hat sie zwei Kinder, 9 und 13 Jahre alt. Sie war schon als Jugendliche politisch aktiv, zuerst in der Grünen Jugend, später im Landesvorstand. Im Landtag war sie 2013 mit 26 Jahren die jüngste Abgeordnete.

"Lebenswege verlaufen nicht immer geradlinig"

"Julia arbeitet gründlich und sorgfältig", steht auf ihrem alten Zeugnis. Ihr Studium der Politikwissenschaft, Philologie und Philosophie hat sie ohne Abschluss abgebrochen - aus persönlichen Gründen. Damit geht sie ganz offen um, lässt sich nicht in die Defensive drängen. "Ich bin, glaube ich, der lebende Beweis dafür, dass Lebenswege nicht immer geradlinig verlaufen", erklärt sie. Sie sei immer eine gute Schülerin und Studentin gewesen. "Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Und so geht es einfach auch vielen anderen Menschen, die irgendwann mal was gelernt haben, später was ganz anderes machen, das ist einfach unsere Lebensrealität. Die allerwenigsten Menschen haben das Privileg, den Job vom ersten Tag bis zum letzten auch durchzuführen."

"Krankheit hat mich sehr verändert"

Nicht immer geradlinig, das hat sie selbst erlebt: Nach der Geburt ihres zweiten Kindes musste sie mit einer Herzerkrankung fertigwerden, einem "gesundheitlichen Schicksalsschlag", wie sie selbst sagt, der sie geprägt hat: "Ich bin tatsächlich durch diese Krankheit und durch die Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit sehr, sehr viel demütiger geworden und habe auch gelernt, dass man sich über bestimmte Dinge nicht so sehr aufregen muss, weil es einfach Wichtigeres im Leben gibt. Und das hat mich schon sehr verändert."

Hamburg gilt als Parteilinke, aber nicht als Ideologin

Vor drei Jahren wurde Hamburg zur Fraktionsvorsitzenden der Grünen in Niedersachsen gewählt, im Wahlkampf dann als Spitzenkandidatin aufgestellt, zusammen mit Christian Meyer. Mit Erfolg: Seit dem vergangenen Oktober ist sie Niedersachsens erste weibliche Vize-Ministerpräsidentin. Sie gilt als Parteilinke, aber nicht als Ideologin. Als authentisch und ausreichend pragmatisch für den Job. So hatte sie zum Beispiel kurz vor Weihnachten schonungslos die Karten auf den Tisch gelegt und den Schulen gegenüber eingestanden, dass der Lehrermangel sicher noch zehn Jahre lang andauern würde. Oder dass das gleiche Einstiegsgehalt, Besoldungsgruppe A 13, sich 2023 nicht mehr umsetzen lässt.

"Ein Koalitionsvertrag setzt sich nicht direkt am nächsten Tag um"

Schritte, die sie angreifbar machten: "Wahlbetrug" schimpfte die Opposition, ein "Offenbarungseid". Doch Hamburg will genau so mit heiklen Fragen umgehen: "Ich werde trotzdem weiter ehrlich sagen, wie Abläufe und Prozesse sind, denn am Ende wissen - wenn alle ehrlich wären in der Politik - alle, dass Prozesse einfach ihre Zeit brauchen. Ein Koalitionsvertrag setzt sich nicht direkt am nächsten Tag um, sondern das ist ein Programm für fünf Jahre. Und deswegen mache ich so weiter und lasse mich da nicht erschüttern." Auch sie könne sich keine Lehrkräfte schnitzen, erklärt sie gegenüber den Lehrern an ihrer alten Schule, aber sie wolle kurzfristig für Entlastung sorgen. Eine große Aufgabe, die sie von ihren Vorgängern geerbt habe.

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Religiös, aber nicht getauft

Es ist nicht die einzige Aufgabe. Mit der neuen Position gehört Julia Hamburg nun auch zum VW-Aufsichtsrat - ein Posten mit viel Gegenwind. Manche trauen der jungen Grünenpolitikerin ohne Wirtschaftserfahrung diesen Job nicht zu. Sie nimmt's gelassen. Und auch auf diesem Terrain muss sich Hamburg nun behaupten: Als Kultusministerin ist sie auch für Religionsangelegenheiten zuständig. Wir begleiten sie zu ihrem ersten Auftritt beim Epiphanias-Empfang der Landeskirche im Kloster Loccum. Es ist Neuland für sie, erzählt Julia Hamburg: "Als kleines Kind habe ich gedacht, ich werde Ärztin oder Lehrerin, dass ich jetzt irgendwie zuständig sein würde für Religion als Ministerin, hätte ich mir damals auf keinen Fall träumen lassen, und auch nicht, dass ich in so großen Hallen stehe und mir alle Hallo sagen." Sie selbst sei durchaus religiös und kirchlich aufgewachsen, sei aber nicht getauft, "weil meine Eltern damals entschieden haben, dass ich mir das selbst aussuchen soll. Und ich trage immer noch in mir, ob ich diesen Schritt gehe oder nicht."

"Klimakrise wirkt sich auch auf unsere Kinder und Jugendlichen aus"

Als Kultusministerin ist Hamburg außerdem für die gesamte Bandbreite von der Kita bis zur Berufsausbildung zuständig. Ein Job, den sie gern auch grün prägen will. In der niedersächsischen Landwirtschaftskammer ist sie bei der Ehrung der Jahrgangsbesten in den sogenannten "grünen Berufen" dabei - eine Herzensangelegenheit. Die Frage der Klimakrise wirke sich auch auf unsere Kinder und Jugendlichen aus, sagt sie, "das hat eine erhebliche Relevanz, um unsere Zukunft zu gestalten, und genau deshalb gehört auch gerade die Frage, Bildung, nachhaltige Entwicklung viel, viel stärker noch in die Schulen, und da werden wir sicherlich auch die Ansätze weiterentwickeln."

"Wenn jemand Grenzen überschreitet, kann ich auch austeilen"

Da hat sie noch viel vor: mehr Freiräume für pädagogische Entwicklung an den Schulen. Dass die Kleinen eben nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, sondern auch Persönlichkeitsentwicklung. Dass sie das jetzt selbst mitgestalten kann, gefällt Julia Willie Hamburg sehr. Auch wenn sie manchmal aneckt mit ihrer Art, die Dinge geradeheraus zu sagen. "Ich glaube, dass es für Politik wichtig ist, dass wir alle zusammenstehen, weil die Fragen einfach viel zu groß sind, um sie allein zu lösen und auch viele Menschen keinen Bock mehr auf dieses Politik-Gezänk haben. Und insofern ist mir das wichtig, da auch fair und klar zu sein. Aber klar: Wenn jemand Grenzen überschreitet, kann ich auch austeilen. Und wenn mal eine Zuspitzung nötig ist, dann werde ich sie wählen. Auch das gehört zur Politik."

Eins ist klar, die Erwartungen an die neue Kultusministerin sind hoch, Bildung, die Zukunft der Kinder ist ein sehr emotionales Thema - punkten kann man da nur schwer.

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Dieses Thema im Programm:

Hallo Niedersachsen | 23.01.2023 | 19:30 Uhr

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