Personalnot und Pleiten: Pflegeheime in der Krise
Die Pleite des Pflegeheimbetreibers Convivo hatte Anfang des Jahres für Aufsehen gesorgt. Doch nun müssen auch immer mehr kleine Betreiber von Altenheimen Insolvenz anmelden.
Kurz vor Weihnachten musste das Haus Am Lehmanger in Braunschweig Insolvenz anmelden. 66 Betten, 55 Beschäftigte, für Geschäftsführerin Barbara Nothnagel Albtraum und Erleichterung zugleich: "Es war tatsächlich eine Erleichterung, weil dieser Tanz auf dem dünnen Eis aufgehört hat. Es lagen die Karten auf dem Tisch, und so eine Insolvenz ist ja auch eine unglaubliche Chance." Rund 30 Jahre arbeitet Nothnagel inzwischen als Führungskraft in der Pflege. Jetzt ist sie an ihre Grenzen gekommen. Den Tanz auf dem dünnen Eis, wie sie es nennt, hat sie erschöpft. Und das erleben gerade viele Heimleitungen in der Branche.
So ernst war es noch nie
Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste, spricht von einer sehr ernsten Lage, so schwere wirtschaftliche Zeiten hätten die Alten- und Pflegeheime noch nie erlebt, sagt der niedersächsische Landesgeschäftsstellenleiter Carsten Adenäuer. Einer der wesentlichen Gründe für die finanzielle Schieflage vieler Betreiber sei, dass sie schlicht so gut wie kein Personal mehr fänden. Damit können sie die Häuser trotz hoher Nachfrage nicht voll belegen.
Zimmer dürfen mangels Personals nicht belegt werden
Die gesetzlichen Personalvorgaben zwingen die Einrichtungen, Zimmer still zu legen, wenn Personal fehlt. Aktuelle Zahlen zu den Insolvenzen liegen weder dem Verband noch der Landesstatistik schon vor, doch die Rückmeldungen der Verbandsmitglieder seien besorgniserregend, erzählt Carsten Adenäuer. Eine andere Zahl mache den Erdrutsch allerdings deutlich. So habe die durchschnittliche Auslastung von Alten- und Pflegeheimen in Niedersachsen im Jahr 2021 bei 87 Prozent gelegen, dramatisch schlecht.
Vielen Heimen steht das Wasser bis zum Hals
Mit weniger als rund 95 Prozent Auslastung, schreiben die Einrichtungen rote Zahlen, erklärt Adenäuer weiter. Eine Auslastung, die die Pflegekassen bei ihrer Refinanzierung von Pflegekosten voraussetzten. Dazu kämen die hohen Preise für Energie, Bauen und Zinsen. Die Pflegesatzvereinbarungen mit den Kassen gelten immer für ein Jahr. Bei unerwartet steigenden Betriebskosten könne nicht mehr kurzfristig und einfach nachverhandelt werden. Die Voraussetzungen für Nachverhandlungen seien rechtlich völlig unklar und extrem aufwendig. "Solche Kämpfe können Häuser wie die Einrichtung in Braunschweig nicht ausführen."
Vielen Heimen stünde das Wasser inzwischen bis zum Hals. "Wir sind in einer Abwerbe-Spirale, in der sich die Einrichtungen gegenseitig kannibalisieren. Die Notwendigkeit der Zuwanderung von Fachkräften wurde von der Politik lange Jahre geleugnet. Dafür zahlt die Gesellschaft jetzt einen hohen Preis."
Nur die Großen überleben
Das bestätigt Insolvenzverwalter Tobias Hartwig aus Braunschweig. Auf seinem Tisch stapeln sich die Fälle: "Seit etwa Sommer, Herbst letzten Jahres steigen die Fälle massiv an, zum einen im Beratungsbereich, aber auch in der Insolvenzverwaltung." Sieben Wochen nach Insolvenzantrag ist er zuversichtlich, dass er für das Haus Am Lehmanger schnell einen neuen Investor findet. Hier soll niemand seinen Job verlieren, niemand umziehen müssen. Doch die Entwicklung in der Branche sieht er mit großer Sorge: "Meine Befürchtung ist, dass wir riesengroße Bettenburgen erleben, in denen die alten Menschen, die unsere Hilfe brauchen mehr oder weniger nur verwahrt werden, weil sich alles andere nicht mehr rechnet."
Ver.di: Pflege und Markt vertragen sich nicht
Für die Gewerkschaft ver.di ist das ein klares Zeichen, dass sich Pflege und Markt nicht vertragen. Gewerkschaftssekretär David Matrai kritisiert maßloses Profit-Streben von Investoren und fordert, die Pflege müsse zurück in die Hände der Kommunen: "Pflege ist aus unserer Sicht kein Bereich, in dem der Markt funktioniert, Anbieter, die dort Immobiliengeschäfte tätigen wollen, Investitionen tätigen wollen und Gewinne herausziehen wollen, sollten sich andere Bereiche suchen, das heißt, das muss ein Bereich sein, der gemeinwohlorientiert organisiert wird."
Branche ist am Ende
Für Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Uni Bremen ist der Zug längst abgefahren. Er verweist darauf, dass schon jetzt die Hälfte aller Häuser in privater Hand seien. Das könnten die Kommunen unmöglich auffangen. Rothgang teilt die Beurteilung der Lage: "Da ist die Gefahr, weil so oft geschrien wurde, wir stehen am Ende, ist es nun gar nicht mehr möglich, wahrzunehmen, dass man schon einen Schritt weiter ist und jetzt tatsächlich am Ende ist."
Einrichtungen müssen vorübergehend improvisieren
Doch er sieht durchaus Licht am Ende des Tunnels. Grundsätzlich habe die Politik die richtigen Weichen gestellt. Doch bis sich das bemerkbar mache, müsse die Pflege schwere Zeiten abwettern und in der Krise improvisieren. Er verweist darauf, dass die Pflegekassen ab Juli deutlich mehr Personal pro Einrichtung refinanzieren werden.
Aufgaben an Assistenzkräfte delegieren
Außerdem schlägt er vor, mehr Aufgaben von Fachkräften an Assistenzkräfte zu delegieren: "Wir haben im Auftrag des Gesetzgebers ein Personalbemessungsverfahren entwickelt, für die Pflegeheime, das jetzt schrittweise umgesetzt wird. Das Ergebnis war nicht nur, wir brauchen sehr viel mehr Pflegekräfte, ungefähr ein Drittel, sondern wir brauchen auch eine andere Arbeitsorganisation und ausgebildete Assistenzkräfte müssen Pflegefachkräfte entlasten." Etwa die Hälfte der Zeit verbrächten Fachkräfte mit Aufgaben, die man auch an Assistenzkräfte delegieren könnte. Das Potenzial sei durchaus beachtlich.
Gigantischen Verwaltungsaufwand eindämmen
Auch Insolvenzverwalter Hartwig hat Vorstellungen, wie die Pflege entlastet werden könnte. "Den gigantischen Verwaltungsaufwand minimieren. Ein Mitarbeiter verbringt eine Stunde am Tag nur mit Verwaltung. Und das ist eben das Problem, dass die Zeit für den Menschen dabei auf der Strecke bleibt."
Hat die Politik Willen und Ausdauer?
Barbara Nothnagel ist skeptisch, ob die Politik den Willen und den langen Atem für echte Reformen aufbringt: "Das System steht kurz vor dem Kollaps, und jeder, der in der Pflege Verantwortung übernimmt, wünscht sich einfach bessere Rahmenbedingungen, bessere Finanzierung und menschlichere Arbeits- und Lebensbedingungen", sagt sie. Und man merkt ihr an, wie der Druck der Branche Spuren hinterlassen hat.