Eine Hand hält eine Pistole. © Photocase Foto: sol-b

Ehefrau in Einbeck erschossen: Versehen oder "Femizid"?

Stand: 04.03.2023 11:03 Uhr

Ein 51-jähriger Einbecker soll seine Frau vorsätzlich getötet haben. Die Verteidigung spricht von einem Versehen. Nach mehr als zwei Jahren Verhandlung soll heute am Landgericht Göttingen das Urteil fallen.

von Wieland Gabcke

Dass dies am Wochenende geschieht, hat terminliche Gründe: Zwei Wochen nach den Schlussplädoyers muss das Urteil fallen. Weil die Verfahrensbeteiligten unter der Woche keine Zeit hatten, kam es laut einer Gerichtssprecherin zu dem Termin am Samstag.

Die Tat ereignete sich am Abend des 14. April 2020: Besma A. lag auf dem Sofa in ihrer Wohnung in Einbeck. Die 27-Jährige hörte Musik und schlief dabei ein. Noch vor Mitternacht war sie tot. Ein Schuss aus einer Pistole traf sie im Gesicht. Aus etwa einem Meter Entfernung wurde der Schuss abgefeuert, wie ein Sachverständiger des Landeskriminalamts vor dem Landgericht Göttingen zu Protokoll gab.

Tödlicher Schuss in Einbeck mit illegal erworbener Waffe

Geschossen hatte ihr mehr als 20 Jahre älterer Ehemann. Mit einer Waffe, die er illegal besessen hatte. Als die Polizei am Tatort eintraf, standen auf dem Wohnzimmertisch teilweise geleerte Glühwein- und Schnapsflaschen. Der Ehemann blieb zunächst auf freiem Fuß. Fünf Monate später wurde er wegen Mordverdachts verhaftet.

Löste sich beim Reinigen der Waffe versehentlich ein Schuss?

Diese Fakten sind mehr oder minder unstrittig, nach mehr als zwei Jahren Verhandlung am Landgericht Göttingen, mit dutzenden Beweisanträgen, zahlreichen Aussagen von Polizeibeamten, Sachverständigen und Angehörigen der Toten. Doch ob der Ehemann seine Frau vorsätzlich oder aus Versehen erschossen hat, da gehen die Sichtweisen stark auseinander. Der Angeklagte hatte nach der Schussabgabe selbst den Notruf gewählt und angegeben, er habe möglicherweise seine Ehefrau aus Versehen erschossen. Beim Reinigen seiner Waffe habe sich unbeabsichtigt ein Schuss gelöst.

Angeklagter war alkoholisiert

Diese Version des Angeklagten hält die Staatsanwaltschaft für unglaubwürdig. Sie vermutet: Der Angeklagte hat den Alkohol nachträglich auf dem Tisch platziert, um den Eindruck zu erwecken, schon während der Tat betrunken gewesen zu sein. Der 51-Jährige habe nämlich orientiert gewirkt, als er den Notruf gewählt hatte, ebenso, als die Beamten eintrafen. Erst auf der Fahrt zum Polizeirevier hätte es Anzeichen von Alkoholisierung gegeben. Daraus lasse sich schließen, dass der 51-Jährige erst nach der Tat getrunken habe. Auch ein Schuss aus Versehen sei nicht möglich, da die Waffe drei Sicherungssysteme habe.

Anklage geht von heimtückischem Mord aus

Das Versehen habe der Angeklagte nur vorgetäuscht. Es sei heimtückischer Mord gewesen, so die Staatsanwaltschaft. Denn seine Frau habe arglos auf dem Sofa gelegen, sei eingeschlafen, dann habe er sie erschossen. Das Motiv laut Anklage: Seine Frau habe sich von ihm trennen wollen, hätte möglicherweise die drei Kinder mitgenommen. Aus Telefongesprächen, die Teil der Beweisaufnahme waren, sei hervorgegangen, dass es Konflikte zwischen dem Ehepaar gab. Die Staatsanwaltschaft fordert deshalb lebenslange Haft für den 51-jährigen Angeklagten.

Verteidigung: Mord nicht nachweisbar

Die Verteidigung hält die Argumentation der Anklage für abenteuerlich. Dass sich der Schuss aus Versehen gelöst habe, sei nicht zu widerlegen, so die Anwälte in ihrem Schlussplädoyer. Auch ein Mordmotiv könne nicht nachgewiesen werden. Eigene Versuche mit der Waffe in der Asservatenkammer hätten gezeigt, dass sich sehr wohl ein Schuss lösen könne, wenn eine Drehsicherung an der Seite nicht arretiert sei.

Kritik an Ermittlungsarbeit der Polizei

Die Anwälte des Angeklagten kritisierten auch das Vorgehen der Polizei am Tatort. Beweismittel, wie etwa ein Tuch, das dem Reinigen der Waffe gedient haben könnte, seien nicht gesichert worden. Es sei unklar, wo und in welchem Zustand sich die Pistole zum Tatzeitpunkt befunden habe. Ein Polizist soll die Waffe vom Couchtisch genommen und auf einen Kaminsims gelegt haben. Die Verteidigung fordert zwei Jahre auf Bewährung für ihren Mandanten - wegen fahrlässiger Tötung und illegalen Waffenbesitzes.

Frauenrechtsgruppen kritisieren langen Prozess

Die Verteidiger hätten das Verfahren durch immer neue Beweisanträge unnötig in die Länge gezogen, kritisieren Frauenrechtsgruppen. "Und die Verteidigung hat versucht, alles in Zweifel zu ziehen", sagte Nele Möhlmann von der Frauenbegegnungsstätte Utamara. Die Frauenrechtlerin aus Hannover hat gemeinsam mit anderen Frauen die AG Prozessbegleitung gegründet und das Gerichtsverfahren von Anfang an beobachtet. Die Gruppe hält an den Prozesstagen auch immer wieder Mahnwachen vor dem Landgericht Göttingen ab, so auch zur Urteilsverkündung.

Prozessbeobachterin: Ehefrau war Gewalt ausgesetzt

Möhlmann ist überzeugt, dass Besma A. Gewalt ausgesetzt war. Sie verweist auf die Beweisaufnahme mit Sprachnachrichten, Fotos und Zeugenaussagen von Schwester und Mutter der Getöteten. "Besma hat in Sprachnachrichten und am Telefon immer wieder Gewalt geschildert", so Möhlmann. Ihr Ehemann habe gedroht, sie zu ermorden. Auf Fotos, die sie ihren Angehörigen geschickt habe, seien Verletzungen zu sehen gewesen. Dennoch habe die Verteidigung bezweifelt, ob in den Sprachnachrichten tatsächlich die Stimme von Besma A. zu hören sei und dass sie Gewalt erfahren habe. "Das in Frage zu stellen, ist schon ziemlich dreist", kritisierte Möhlmann.

Lückenlose Aufklärung keinesfalls sicher

Die Frauenrechtlerin ist davon überzeugt, dass der Tod von Besma A. ein Frauenmord, also ein sogenannter Femizid war. Kurz nach dem Tod von Besma A. hätten sich bei Frauenberatungsstellen viele Frauen aus der kurdischen Community gemeldet. "Sie hatten Angst, dass ihnen das auch passiert, was Besma A. passiert ist", so Möhlmann. Noch vor der Festnahme des Ehemanns veröffentlichten bundesweit aktive Gruppen 2020 einen offenen Brief an Ermittlungsbehörden, Landes- und Bundesminister. Mit der Bitte um eine lückenlose Aufklärung des Falls. Angesichts der Beweislage ist aber keinesfalls sicher, ob das Landgericht Göttingen den Tod von Besma A. mit seinem Urteil lückenlos aufklären kann.

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Der Schriftzug «Landgericht, Amtsgericht, Arbeitsgericht» ist am Haupteingang im Landgericht in Göttingen (Niedersachsen) mit einer Spiegelung des Gerichtsgebäudes zu sehen. © picture alliance/dpa/Swen Pförtner Foto: Swen Pförtner

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NDR 1 Niedersachsen | Aktuell | 04.03.2023 | 08:00 Uhr

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