Der Fall Höxter: Eine Chronologie
Zuerst ein schrecklicher Verdacht, dann Gewissheit und immer neue grausame Details: Was sich jahrelang auf einem Hof in Höxter (Nordrhein-Westfalen) abgespielt hat, macht fassungslos. Immer neue Erkenntnisse bringen die Ermittler ans Licht, die Zahl der möglichen Opfer steigt. Wilfried W. aus Bochum und Angelika W. aus Herford sollen in ihrem Haus im Ortsteil Bosseborn Frauen festgehalten, misshandelt und gequält haben. Zwei Frauen aus Niedersachsen starben an ihren Verletzungen. Bei der Bielefelder Polizei ermittelt eine 40-köpfige Mordkommission in dem Fall.
Die Abläufe, so weit sie bekannt sind, in chronologischer Reihenfolge:
August 1995
Wilfried W. wird vom Amtsgericht Paderborn wegen Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Nötigung zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Der 25-Jährige soll zusammen mit seiner Geliebten seine damalige 24-jährige Ehefrau misshandelt und gequält haben.
1999
W. lernt Angelika B. kennen. Schon wenige Wochen später heiraten die beiden. Über ihr Leben in den darauffolgenden Jahren ist bislang nichts bekannt, außer, dass ihr letzter Wohnort vor Höxter Schlangen in Lippe ist.
2010
Das Ehepaar mietet ein Gehöft in Bosseborn, einem Ortsteil von Höxter in Nordrhein-Westfalen. Die Kaltmiete beträgt 500 Euro, die das Paar monatlich bar bezahlt, wie die Eigentümer dem "Westfalen-Blatt" berichten. Bei regelmäßiger Mietzahlung soll der Hof 2017 in den Besitz der Mieter übergehen, ein sogenannter Mietkauf.
August 2011
Eine heute 51-jährige Frau aus dem Raum Berlin, die auf eine Kontaktanzeige von Wilfried W. geantwortet hat, besucht den Hof in Bosseborn. Ihrer eigenen Aussage zufolge bleibt sie etwa drei Wochen. Es habe keine Übergriffe gegeben. Die Frau hält telefonischen Kontakt zu Wilfried W.
Ende 2011
Die Frau besucht erneut das Gehöft. Diesmal bleibt sie mehr als drei Monate: Wilfried und Angelika W. halten sie gefangen und misshandeln sie, wie sie der Polizei später berichtet. Eine Möglichkeit zur Flucht habe sie nicht gehabt. Im März 2012 setzt das Ehepaar die Frau in einen Zug nach Hause - nach einer "erheblichen körperlichen Auseinandersetzung", wie diese erklärt.
2013
Das Ehepaar W. lässt sich scheiden. Trotzdem wohnen die beiden weiterhin zusammen auf dem Hof in Bosseborn - und empfangen dort erneut Besuch: Die 33-jährige Annika W. aus Uslar antwortet auf eine von Wilfried W.s Zeitungsannoncen. Im Sommer heiratet sie Wilfried W. Angelika W. sagt 2016 aus, dass sie und ihr Ex-Mann die Frau gemeinsam gequält und misshandelt hätten.
1. August 2014
Annika W. stirbt an ihren Verletzungen. Ihren Leichnam frieren die mutmaßlichen Täter zunächst in einer Tiefkühltruhe ein. Anschließend zerstückeln sie die Leiche, verbrennen die Stücke im Kamin und verstreuen die Asche an Straßenrändern in der Umgebung - so die Aussage von Angelika W. Diese schickt nach dem Tod des Opfers regelmäßig SMS von Annika W.s Handy an deren Mutter, um den Tod der Frau zu verschleiern. Bis Ende April 2016 geht die Mutter davon aus, dass ihre Tochter am Leben ist. Beim Einwohnermeldeamt liegt für Annika W. der Hinweis "in die Niederlande/Amsterdam verzogen" vor.
2014 bis 2016
Weitere Frauen kommen auf Kontaktanzeigen von Wilfried W. hin nach Bosseborn - die Ex-Eheleute geben sich ihnen gegenüber als Geschwister aus, so berichtet es die "Welt". Die Frauen werden misshandelt. Dazu gehört offenbar auch, ihnen büschelweise die Haare auszureißen. Irgendwann werden ihnen dann die Köpfe kahlrasiert. Des Weiteren müssen die Opfer auf dem kalten Boden in einem ungeheizten Raum schlafen, werden geschlagen, getreten und gefesselt. Den Ermittlern zufolge geht es dabei offenbar eher um Machtausübung als um sexuelle Motive. Alle Frauen müssen Wilfried W. und seiner Ex-Frau offenbar auch Geld zahlen. Insgesamt sollen die Tatverdächtigen von den Opfern mehr als 100.000 Euro erhalten haben.
Februar 2016
Die 41-jährige Susanne F. aus Bad Gandersheim (Landkreis Northeim), die von ihrem zweiten Ehemann getrennt lebt, antwortet auf eine Annonce von Wilfried W.
März 2016
Susanne F. zieht zu W. auf das Gehöft. Mehrere Wochen wird sie dort nach Erkenntnissen der Ermittler festgehalten und misshandelt.
21. April 2016
Das Ex-Ehepaar will Susanne F. mit dem Auto zurück in ihre Wohnung in Bad Gandersheim bringen. Die Frau ist schwer verletzt. Auf dem Weg bleibt das Auto liegen: Wegen eines Motorschadens kommen Wilfried und Angelika W. in Northeim nicht weiter. Sie rufen einen Rettungswagen für Susanne F., die wenige Stunden später im Krankenhaus ihren Verletzungen erliegt. Die Ärzte alarmieren die Polizei. Als Todesursache wird stumpfe Gewalt gegen den Kopf festgestellt.
27. April 2016
Angelika und Wilfried W., zu diesem Zeitpunkt 47 und 46 Jahre alt, werden vorläufig festgenommen. Ihr Haus wird durchsucht, die Ermittler sichern Spuren und Unterlagen.
28. April 2016
Das Amtsgericht Höxter erlässt Haftbefehl wegen Totschlags gegen die Verdächtigen. Die beiden kommen in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld in Untersuchungshaft.
29. April 2016
Der Fall Höxter wird der Öffentlichkeit bekannt: Zuerst weiß man lediglich, dass eine 41-Jährige gestorben ist, nachdem sie offenbar wochenlang in Höxter gefangen gehalten und misshandelt wurde. Von weiteren Fällen weiß man zunächst nichts. Die Obduktion von Susanne F. hat laut Ralf Meyer, Sprecher der Staatsanwaltschaft Paderborn, keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch ergeben. "Allerdings können wir das nicht ausschließen", so Meyer.
30. April 2016
Wie die Staatsanwaltschaft Paderborn mitteilt, war das verdächtige Paar der Polizei bekannt. Beide sind vorbestraft. Es gebe außerdem keine Hinweise auf weitere Mittäter. Oberstaatsanwalt Meyer sagt zudem, dass Susanne F. offenbar nicht als vermisst gemeldet wurde und nicht berufstätig war.
Nachbarn in Bosseborn berichten, dass sie das 41-jährige spätere Opfer in Begleitung des Paars gesehen hätten. Die drei seien zum Beispiel gemeinsam im Auto weggefahren oder spazieren gegangen. Eine Nachbarin sagt dem "Westfalen-Blatt", Susanne F. habe "lange, schöne" Haare gehabt, später sei sie dann kahlrasiert gewesen.
3. Mai 2016
Auf einer Pressekonferenz teilt die Bielefelder Polizei mit, dass nicht nur Susanne F., sondern auch Annika W. an den Folgen von Misshandlungen durch das mutmaßliche Täterpaar gestorben ist. Angelika W. habe ein Geständnis abgelegt. Sie sei ihrem früheren Mann hörig gewesen und ebenfalls von ihm misshandelt worden. Wilfried W. streitet alle Taten ab und beschuldigt seine frühere Frau.
4. Mai 2016
Die Ermittler geben bekannt, dass es noch mehr Opfer gegeben hat. Die heute 51-jährige Frau aus dem Raum Berlin hat sich gemeldet, nachdem sie das Haus erkannt hatte. Vorher, sagt sie aus, habe sie nichts gesagt, weil ihr Gewalt angedroht worden sei.
Die Polizei räumt das Haus in Bosseborn aus, um es besser nach Spuren durchsuchen zu können. Außerdem gehen die Ermittler ersten Hinweisen aus der Bevölkerung nach.
6. Mai 2016
Bei der Polizei Bielefeld haben sich inzwischen mehrere Frauen gemeldet, die auf Zeitungsanzeigen hin einen ersten Kontakt zu Wilfried W. hatten, wie eine Sprecherin mitteilt. Weitere Misshandlungsopfer seien nicht darunter.
7. Mai 2016
Wie "Der Spiegel" berichtet, haben die Ermittler in dem Haus in Höxter Abschiedsbriefe gefunden. Die Briefe stammten vermutlich von den beiden Todesopfern, schreibt das Magazin. In den Schreiben erklärten die Frauen, sie wollten ihrem Leben ein Ende setzen. Außerdem seien mehrere Zettel entdeckt worden, auf denen Frauen versicherten, sie seien mit der Behandlung durch Angelika und Wilfried W. einverstanden.
Angelika W. hat dem Bericht zufolge in ihrer Zelle eine Tabelle angefertigt, darauf die Namen von sieben Opfern sowie Einzelheiten zu den Misshandlungen, darunter Schläge und Tritte, Würgen und sexuelle Misshandlungen. Die Spalte der zum Teil sadistischen Handlungen fülle drei DIN-A4-Blätter. Angelika W. will die meisten Taten selbst begangen haben - sie habe geglaubt, dass ihr Ex-Mann das von ihr erwarte.
13. Mai 2016
Die Ermittler wissen mittlerweile von acht Frauen, die in Höxter misshandelt wurden. "Wir gehen von noch mehr Opfern aus", sagt eine Sprecherin der Polizei Bielefeld NDR.de. Am Tatort sind 20 Handys gefunden worden.
Die Eigentümer des Hofs geben bekannt, dass sie das Haus nach Abschluss der Ermittlungen abreißen lassen wollen. Auf dem Grundstück solle stattdessen ein Kreuz zum Gedenken an die Opfer aufgestellt werden.
25. Mai 2016
Der Anwalt des beschuldigten Wilfried W. wirft der niedersächsischen Polizei laut "Westfalen-Blatt" Versagen vor. Die Polizei in Uslar hätte demnach schon 2012 auf das beschuldigte Paar aufmerksam werden können.
7. Juni 2016
Bereits im Jahr 2014 haben nach Angaben der Behörden Zeugen auf die Beschuldigten hingewiesen. In einem Fall soll es einen Streit zwischen dem Paar und einer Frau gegeben haben, in einem anderen Fall saß eine eingeschüchtert und im Gesicht verletzte Frau auf dem Rücksitz eines Autos. In beiden Fällen habe die Polizei damals keine Hinweise auf eine Straftat gefunden.
14. Juni 2016
Die Staatsanwaltschaft wird nicht gegen die Polizei ermitteln. Bei insgesamt drei Einsätzen hätten sich keine Hinweise auf eine Straftat ergeben.
16. September 2016
Laut "Spiegel Online" will die Staatsanwaltschaft Paderborn Anklage wegen Mordes durch Unterlassen gegen Wilfried W. und Angelika W. erheben.
21. September 2016
Die Staatsanwaltschaft Paderborn erhebt Anklage gegen Wilfried W. und dessen Ex-Frau Angelika W. Der Vorwurf: gemeinschaftlicher Mord durch Unterlassen. Angelika W. werden außerdem versuchter Mord und Körperverletzung in fünf Fällen vorgeworfen, Wilfried W. Körperverletzung in 30 Fällen.
26. Oktober 2016
Bereits der erste Prozesstag liefert mit der Verlesung der Anklage brutale Details zu den Geschehnissen in dem Haus in Höxter. Das Paar soll den Willen der Frauen unter anderem mit Schlägen und Tritten systematisch gebrochen haben. Den Leichnam des Opfers Annika W. sollen die Angeklagten in einer Tiefkühltruhe eingefroren, ihn später zerstückelt, die Stücke im Kamin verbrannt und die Asche an Straßenrändern in der Umgebung verstreut haben.
16. November 2016
Am zweiten Prozesstag schildert die Angeklagte Angelika W., wie sie Wilfried W. kennenlernte und schon kurz darauf selbst Opfer seiner Misshandlungen wurde.
30. November 2016
Angelika W. legt dem Gericht eine Liste mit mehr als 70 Formen der Misshandlungen vor, die sie und ihr Ex-Mann Wilfried W. den Frauen zugefügt hätten. Darunter sind Schläge und Beleidigungen, Verbrühen, Würgen und stundenlanges Anketten im Schweinestall.
6. Dezember 2016
Die Angeklagte berichtet detailliert vom monatelangen Martyrium der Annika W. aus Uslar.
13. Dezember 2016
Am fünften Prozesstag geht es vor dem Paderborner Landgericht um den Fall von Susanne F. aus Bad Gandersheim, deren Tod im Krankenhaus die Ermittler zu Wilfried W. und seiner geschiedenen Frau Angelika W. führte.
20. Dezember 2016
Erneut sagt Angelika W. aus. Sie macht ihrem Ex-Mann schwere Vorwürfe: Er habe sie in Todesangst versetzt und sie zu seinem Werkzeug gemacht. Weitere Grausamkeiten zu den Qualen des Opfers Annika W. werden bekannt.
10. Januar 2017
Angelika W. sagt weiter aus. Sie spricht emotionslos über das Geschehene. "Trauer oder die arme Annika - das gab es bei mir nicht", sagte sie. Erneut belastet sie ihren Ex-Mann schwer.
8. Februar 2017
Neuigkeiten außerhalb des Gerichtssaals werden bekannt: Ein Handwerker hat das Haus, in dem sich die Taten zugetragen haben sollen, gekauft. Er wolle das Haus sanieren.
14. März 2017
Erstmals sagt Wilfried W. vor dem Landgericht aus. Er bezeichnet seine Ex-Frau als Haupttäterin. Angelika W. sei eine Sadistin. Sie habe bei den Taten stets den Ton angegeben, so die Darstellung von Wilfried W. Seine Aussage lässt er von seinem Verteidiger verlesen.
11. Juli 2017
Überraschende Wendung im Prozess: Im Fall Susanne F. erhält die Staatsanwaltschaft den Vorwurf des Mordes durch Unterlassen nicht mehr aufrecht. Einem Gutachter zufolge war für einen Laien nicht erkennbar, dass die Frau sofort ins Krankenhaus gemusst hätte.
3. Juli 2018
Eine Gutachterin sagt vor dem Landgericht aus. "Er beurteilt, besonders wenn er unter Druck steht, Dinge komplett falsch", sagte die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh. Ihre Einschätzung: Wilfried W. ist nur vermindert schuldfähig. Sein Verhalten erinnere an ein Grundschulkind. W. solle in einer Psychiatrie untergebracht werden.
6. September 2018
Die Verteidiger von Wilfried W. halten ein erstes Plädoyer. Sie fordern, dass W. in die Psychiatrie eingewiesen werden soll. Morde könnten sie nicht erkennen. Eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten halten sie für angemessen. Tags zuvor hatte die Staatsanwaltschaft lebenslang gefordert - wegen Mordes.
5. Oktober 2018
Das Landgericht Paderborn verurteilt Angelika W. zu 13 Jahren Haft, ihren Ex-Mann Wilfried W. zu elf Jahren. Er soll in der Psychiatrie untergebracht werden. In seiner Urteilsbegründung sagt der Richter, die Kammer habe bei Angelika W. von einer lebenslangen Haft abgesehen, weil sie umfassend ausgesagt und zur Aufklärung beigetragen habe. Wilfried W. sei vermindert schuldfähig, deshalb komme bei ihm lebenslänglich nicht infrage.