Krieg, Flucht und Vertreibung: Kann sich ein Trauma vererben?
In sechs Jahren Weltkrieg waren Millionen Menschen mit Existenzangst, Flucht und Vertreibung konfrontiert, viele haben Traumatisches erlebt. Was vor 80 Jahren passiert ist, kann sich auch auf folgende Generationen auswirken, sagen Experten.
An der Psychiatrischen Klinik Lüneburg ist der Zweite Weltkrieg auch heute präsent. Bei der Arbeit mit älteren Patienten kommen die traumatischen Erlebnisse von damals immer wieder hoch. Auch Menschen, die heute aus Kriegsgebieten flüchten, erleiden oft ein Trauma. Katharina Roscher ist die leitende Oberärztin der Gerontopsychiatrischen Abteilung, Marc Burlon ist der Ärztliche Direktor. Für beide gehört die Behandlung von Traumata zum Tagesgeschäft.
Herr Burlon, wann sprechen Sie von einem Trauma?
Marc Burlon: Ein Trauma bezeichnen wir als ein sehr schwerwiegendes Ereignis. Etwa eine Naturkatastrophe, eine Vergewaltigung oder wenn jemand Zeuge eines solchen Ereignisses wurde, das kann alles eine sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung auslösen. Wobei jeder natürlich die Dinge subjektiv erlebt und man nicht pauschal sagen kann, das löst in jedem Fall ein Trauma aus. Allgemein wird der Begriff Trauma heute sehr weitläufig genutzt für alles, das irgendwie schwierig ist.
Frau Roscher, Sie beschäftigen sich in der Gerontopsychiatrie mit Menschen im Alter ab 65 Jahren. Inwieweit gehören Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg zu ihrem Alltag?
Katharina Roscher: Es ist ein ganz großes Thema, was uns immer wieder beschäftigt. Wir arbeiten mit unseren Patienten immer biografisch. Das heißt, wir sprechen mit ihnen über ihre Lebensgeschichte. Und da kommen automatisch solche Erlebnisse ans Tageslicht. Es ist nicht immer der Grund, dass jemand zu uns in die Klinik kommt, aber wir decken diese Dinge im Lauf der Behandlung eigentlich früher oder später immer auf. Aktuelle Ereignisse wie der Krieg in der Ukraine sind auch immer ein möglicher Anlass, dass etwas reaktiviert wird. Wenn die Menschen die Bilder im Fernsehen sehen, erinnern sie sich an das, was sie selbst erlebt haben.
Warum kommen solche Erlebnisse gerade im Alter wieder ins Bewusstsein?

Roscher: Im Alter lassen körperliche und psychische Kräfte nach und dann werden wir allgemein sensibler. Emotionen, die vorher mit viel Kraft zurückgehalten wurden, können dann durchbrechen.
Wie zeigt sich das konkret?
Roscher: Das ist ganz individuell. Aber bei einem Menschen mit Demenz beispielsweise kann sich das äußern, indem der Patient für Außenstehende unerklärlich auf einmal Ängste äußert, sich duckt, von Bomben spricht und um Hilfe ruft. Manche verstecken sich dann auch unter einem Tisch. Oder Patienten verhalten sich bei der Pflege merkwürdig, wollen sich beispielsweise nicht berühren lassen und rufen, man solle stoppen. Dann gehen wir meist mit den Angehörigen ins Gespräch und in der Regel finden wir spätestens dann Hinweise, was der Mensch früher einmal erlebt hat und in welcher Situation er sich deshalb wähnt.
Vor 80 Jahren ist die Gesellschaft noch ganz anders mit Traumata umgegangen als heute. Damals wurde viel verdrängt und geschwiegen. Wie wirkt sich das bis heute aus?
Burlon: Wenn man nicht über das Erlebte spricht, kann das eine gewisse Zeit gut gehen. Es gibt aber Ereignisse, vor allem, wenn sie Menschen gemacht sind, wie Vergewaltigungen beispielsweise, die sind so schwerwiegend, das sucht sich auf lange Sicht seinen Weg - etwa durch Drogenkonsum, durch Depression oder durch Gewalt in der Familie. Das heißt, wir erleben oft die Konsequenzen des nicht gut gelaufenen Verarbeitungsprozesses im höheren Alter.
Roscher: Und das betrifft dann ja auch die nachfolgenden Generationen. Schwere Traumatisierungen können zu Persönlichkeitsveränderungen führen, was sich wiederum auf die Beziehung zu den eigenen Kindern auswirken kann. Und wenn Kinder keine Chance haben, zu verstehen, was mit den Eltern eigentlich passiert ist, warum diese so sind, wie sie sind, dann beziehen Kinder das oft auf sich und suchen auch die Schuld bei sich. Man weiß heute auch, dass sich Traumata in gewisser Form vererben können und das über mehrere Generationen hinweg.
Gibt es dazu auch wissenschaftliche Forschung?
Burlon: Als die Terroranschläge in den USA am 11. September 2001 passierten, sind Forschungsteams losgegangen und haben die Menschen, die das damals erlebt haben, für längere Zeit beobachtet. Dadurch wissen wir heute, dass sich Gene auch Umwelteinflüssen anpassen können. Inwieweit sich ein Trauma in den Genen widerspiegelt, das können wir wissenschaftlich noch nicht sagen. Soweit ist die Forschung noch nicht. Aber wir sind dabei, uns diesem Thema zu öffnen. Es gab lange das Credo in der Wissenschaft, dass Gene nicht zu verändern sind. Und da weiß man nun, dass es doch so ist und dass sehr wahrscheinlich die Biografie eines Menschen, also das Erlebte, sich auch genetisch auf die folgenden Generationen auswirken kann.
Spätestens seit 2015 ist das Thema Flucht in Deutschland wieder präsent. Wie gehen Sie heute mit traumatischen Erlebnissen auf der Flucht um?
Burlon: Das gehört zu unserem Alltag, dass wir Menschen, die aus aktuellen Kriegsgebieten kommen, in unserer Klinik aufnehmen und behandeln. Wichtig ist, dass die Person auch eine Therapie machen will. Eine Therapie dauert übrigens gar nicht so lange. Meist reichen acht bis zehn Sitzungen aus, um schlimme, traumatische Ereignisse aufzuarbeiten. Ich glaube auch, dass die Integration von Menschen viel besser funktionieren könnte, wenn die psychischen Probleme zuerst verarbeitet werden.
Was raten Sie Menschen, die Traumatisches erlebt haben?
Roscher: Wir würden auf jeden Fall ermutigen, sich um eine Traumatherapie zu bemühen. Natürlich ist jede Therapie auch anstrengend. Man muss dazu bereit sein, dann gibt es aber auch eine sehr gute Heilungschance. Das Alter spielt bei einer Therapie übrigens keine Rolle. Im Gegenteil, ältere Menschen haben oft schon viele Krisen bewältigt und das kann in einer Therapie sehr helfen. Wenn eine Person an Demenz erkrankt ist, dann können wir allerdings nicht mehr viel machen. Das berührt mich immer sehr, wenn ich Menschen erlebe, die in ihrer Demenz mit einem Trauma kämpfen, wenn die Symptome wieder hochkommen und wir mit psychotherapeutischen Mitteln dann nicht mehr helfen können. Deshalb, wer immer sich auch angesprochen fühlt, möge sich doch bitte Hilfe holen, solange es geht.
Das Interview führte Marlene Kukral
