KI-Handprothese: Fortschritt zum Greifen aus Duderstadt

Stand: 18.12.2024 06:00 Uhr

In Duderstadt im Süden von Niedersachsen sitzt Ottobock, der Weltmarktführer für Prothesen: Das Unternehmen hat eine Handprothese entwickelt, die sich mithilfe künstlicher Intelligenz fast wie eine echte Hand steuern lässt.

von Arne Schulz

Ralph Bethmann, Orthopädietechniker und Trainer für Arm- und Handprothesen, steht in einem grell erleuchteten Seminarraum im Keller der Firmenzentrale von Ottobock. Auf einem Tisch an der Wand liegen zahlreiche künstliche Hände: klobige robuste Modelle, die komplett steif sind, und Hightech-Prothesen mit drehbarem Handgelenk und beweglichen Fingern. "Wir haben hier eine Demoprothese aufgebaut, die durch Myo-Signale gesteuert werden kann und wo es möglich ist, alle fünf Finger zu bewegen", erklärt Bethmann.

Die Demoprothese steht auf einem Sockel auf dem Tisch. Sie ist per Kabel mit einer Elektroden-Manschette verbunden, die am Unterarm befestigt wird. Ein Tablet empfängt die Daten aus den Elektroden per Bluetooth. Dadurch kann Bethmann Beschäftigten von Sanitätshäusern hier praxisnah vorführen, wie die Prothese funktioniert. Gäste kommen aus Deutschland, den Nachbarländern und auch aus der Ukraine.

Eine Frau mit einer Handprothese greift einen Strohhalm. © Screenshot
AUDIO: Was kann KI? Handprothese arbeitet mit künstlicher Intelligenz (9 Min)

Künstliche Intelligenz lernt Bewegungsimpulse zu erkennen

Eine Ki-gesteuerte Handprothese steht auf einem Tisch. © NDR
Auf einem Tablet werden Muster von Muskelsignalen visualisiert, die die Prothese in Bewegungen umsetzt.

Zunächst muss die künstliche Hand trainiert werden. Dazu befestigt Bethmann die Manschette an meinem Unterarm. Acht Elektroden erfassen meine Muskelsignale an unterschiedlichen Stellen. Von dem Experten angeleitet führe ich nun verschiedene Bewegungen aus. Die Muskelaktivität beim Drehen des Handgelenks ist anders als beim Ausstrecken des Zeigefingers. Meine Handbewegungen erzeugen auf dem Tablet deshalb unterschiedliche Muster, die visualisiert und gespeichert werden. Durch Wiederholung bekommt die KI immer mehr Daten und lernt, meine Bewegungen zu erkennen - so soll allein das Denken an eine Bewegung dazu führen, dass die Prothese sie ausführt, wie Bethmann erläutert.

Die künstliche Hand per Gedanken steuern - ist das wirklich möglich? Manius Schinkel ist Head of Engineering bei Ottobock. Sein Team - es sitzt in Duderstadt, Wien, Stockholm und Berlin - kümmert sich um die App-Entwicklung. "Die Prothese kann natürlich keine Gedanken lesen, aber deine Muskeln setzen das tatsächlich um", sagt Schinkel. So als wäre die Hand noch vorhanden.

Muskelspannung steuert die Prothese

Menschen können sich vorstellen ihre Hand zu bewegen, auch wenn keine mehr da ist - die Muskeln am Unterarm reagieren weiterhin. Das macht Ottobock sich bei der sogenannten Myoplus-Steuerung zunutze. Das Grundprinzip, die Muskelspannung mit Elektroden zu messen, ist dabei schon lange erprobt. Bei klassischen Prothesen stellt ein Techniker händisch ein, welche Muskelspannung welche Prothesen-Bewegung auslösen soll. Dabei definiere der Profi Schwellenwerte, erklärt Schinkel. Unterhalb dieser Werte ignoriere die Prothese die Signale. "Und wenn die Spannung stärker wird, sagst du: Okay, ab der Schwelle soll das jetzt 'Hand schließen' sein oder 'Hand öffnen'."

Die KI-Prothese lernt von ihrem Träger

Der Träger einer solchen Prothese muss lernen, die richtige Spannung zu erzeugen. Bei der intelligenten Hand ist es umgekehrt: Die Prothese lernt von ihrem Träger. Und die KI erkennt die Bewegungen auch dann, wenn der Arm zum Beispiel mal müde ist und die erlernten Muster sich verschieben. "Was ist jetzt eigentlich deine Absicht, was willst du machen?" Den ganzen Tag über stelle sich die KI diese Fragen, so Schinkel. "Soll die Hand jetzt eher schnell aufgehen oder soll sie langsam aufgehen? Oder soll die Rotation eher schnell oder eher langsam sein?" Viele Betroffene beherrschten mit der künstlichen Hand selbst anspruchsvolle Bewegungsabläufe: "Spezialgriffe nennen wir das", sagt Schinkel. Ein Mausklick, ein Doppelklick, einen Stift halten. "Solche Möglichkeiten gibt es dann einfach."

Wer profitiert von der Weiterentwicklung?

Doch nicht für jeden ist die künstliche Hand die richtige Lösung. Zum einen funktioniere sie nur bei Menschen, die ihre Hand beispielsweise durch einen Unfall verloren haben, nicht bei angeborenen Fehlbildungen, so Schinkel. Zum anderen lässt das System für die Hand sich nicht eins zu eins auf andere Körperteile übertragen, weil die Muskeln nicht überall so differenzierte Muster erzeugen. Und während Myoplus für Büroarbeiten ideal sei, sagt Schinkel, brauche ein Bauarbeiter oder Landwirt womöglich eine robustere Prothese, die auch bei hoher Belastung stabil bleibt. Die KI-Prothese sei deshalb mehr Evolution als Revolution. Kein Gamechanger, aber ein wichtiger Fortschritt.

Prothesen-Trainer Bethmann hat inzwischen die unterschiedlichen Bewegungsmuster meiner Hand gespeichert und an die Prothese übertragen. Bethmann sagt: "Tischprothese einschalten." Ein Piepen ertönt. Erkennt die künstliche Hand jetzt wirklich, was ich vorhabe? Ich drehe mein Handgelenk und mit einem Surren dreht sich die Prothesenhand mit. Dann schließe ich die Finger - die künstliche Hand ballt sich zur Faust.

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NDR Info | 18.12.2024 | 06:41 Uhr

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