Im Wendland entsteht ein "Dorf der Zukunft"
Städteplaner müssen bei ihrer Arbeit unter anderem den demografischen Wandel, eine zunehmende Zahl an Migranten, den Wunsch nach Barrierefreiheit oder Betreuungsangebote für Kinder mit einkalkulieren. Auf den ersten Blick scheint es unmöglich, allen gerecht zu werden. Eine kleine Gemeinschaft im Wendland in Niedersachsen hat sich aber genau das zum Ziel gesetzt und plant ein "Dorf der Zukunft".
Thomas Hagelstein stapft über ein abgewirtschaftetes Feld am Rande des kleinen Städtchens Hitzacker. 5,5 Hektar ist es groß, einige Stoppeln stehen noch, der Boden ist matschig. Noch ist nichts zu sehen vom "Dorf der Zukunft". Hagelstein kratzt sich unter der Mütze, die seine langen Haare bedeckt, und macht eine ausladende Geste über den Acker: "Hier wird die Dorfstraße entstehen. 1.000 Quadratmeter Gewerbefläche, dann da hinten ungefähr 100 Wohnungen für 300 Menschen. Das ist der Plan."
Idee entsteht in der Flüchtlingshilfe
Die Idee für das Dorf entstand auch im Rahmen einer sehr aktiven Flüchtlingshilfe in Hitzacker. Viele Menschen in der Stadt setzten sich schon seit Jahren ein für Syrer, Afghanen, Iraker und andere Flüchtlinge. In der "Zuflucht Wendland", unter deren Dach sich die Initiativen versammelten, ergab sich dieser Gedanke fast von alleine: "Wir haben in der Flüchtlingsarbeit gemerkt, dass die Leute sich ganz schnell verbandeln - die Alten von hier und die neu zugezogenen." Wahlfamilien hätten sich gegründet, erzählt Hagelstein: "Und plötzlich passiert was gemeinsam, ist was Verbindliches da, was Familiäres. Das ist genau der Impuls, den wir hier auf dem Land uns wünschen."
Im Dorf soll jeder seinen Platz finden
Einen Namen zu finden war schwierig, 70 Vorschläge lagen auf dem Tisch - darunter Wortkreationen wie "Neuropa". Durchsetzen konnte sich keiner. Jetzt wird die Siedlung einfach "Hitzacker Dorf" heißen, und alle hoffen, dass sich noch ein netter Spitzname findet.
Hier soll jeder seinen Platz haben: Flüchtlinge und Alteingesessene, Junge und Alte, Arme und Reiche. Das Baukonzept mit Reihenhaus-Bauweise ist nachhaltig, es soll viel Gemeinschaftsfläche geben, kollektiven Gemüseanbau, keine Autos. Unter den Flüchtlingen sind Handwerker und Ingenieure, die mit anpacken wollen. Mehr als 15 Arbeitsgruppen und Beiräte diskutieren jetzt schon über Themen wie Müllkonzept, Landschaftsplanung oder Kinderbetreuung. Alles wird basisdemokratisch entschieden.
Dorfgemeinschaft will sich umeinander kümmern
Eine Arbeitsgruppe tagt gerade im gemeinsamen Kulturzentrum "Kulturbahnhof Hitzacker", die sogenannte Orga-Gruppe. Die Frauen sitzen um den Tisch, trinken Tee und denken darüber nach, wie sich aus der Gruppe noch besser eine Gemeinschaft bilden lässt. Vielleicht mit gemeinsamen Unternehmungen, Spielen, einem gemeinsamen Back-Nachmittag.
Mit dabei ist auch die gebürtige Dänin Rita Lassen, 65 Jahre alt, gerade in Rente. Sie möchte auch in das Dorf einziehen. "In meinem letzten Lebensabschnitt möchte ich einfach mit Menschen leben, mit denen ich zusammen alt werden kann. Die sich um mich kümmern, und ich möchte mich auch um sie kümmern, sodass ich nicht in irgendein Heim abgeschoben werde, und dass ich tatsächlich auch dort im Dorf irgendwann sterben kann."
Ein ganzes Dorf, um die Kinder zu erziehen
Um das Dorf zu finanzieren, haben die zukünftigen Dorfbewohner und Unterstützer vor Kurzem eine Genossenschaft gegründet. 200 Anteilseigner gibt es schon, 60 von ihnen wollen sofort in das Dorf einziehen. Ein Solidaritäts-Fonds soll es möglich machen, dass auch Flüchtlingsfamilien und andere Menschen ohne viel Startkapital sich eine Wohnung leisten können - so wie zum Beispiel die 37-jährige Sabrina Scheffhold. Sie ist mit drei Kindern alleinerziehend. "Ich brauche einfach ein Dorf, um meine Kinder zu erziehen. Und ich wünsche mir sehr viel Unterstützung und Gemeinschaft. Bis jetzt ist das bei mir eher so ein 'Alleine vor mich hin krokeln und zu Hause sein müssen'." Scheffhold hofft, dass sie im Dorf leichter mal eben ins Nachbarhaus gehen kann, und abends auch mal Gespräche mit Erwachsenen führen kann, wenn die Kinder schlafen.
Wird es wirklich klappen?
Wenn es gut läuft und noch das letzte Geld aufgebracht wird, das die Bank als Startkapital sehen will, dann könnte schon im Mai der erste Spatenstich sein, drei Jahre später könnte das Dorf stehen. Ob sich alle Ziele wirklich umsetzen lassen, weiß jetzt noch niemand. Aber die Motivation ist bei allen Beteiligten hoch, hier im Kleinen etwas Großes zu schaffen. Hagelstein glaubt sogar, dass das Dorf Schule machen wird: "Die Gemeinden in ganz Europa werden uns besuchen kommen und wissen wollen: 'Wie habt ihr das gemacht?'" Bei dem Gedanken grinst er zufrieden, und stapft über den Acker davon.