Eine Frau liest aus einem Buch vor. © NDR

Gewalt an Frauen: Ärztin schreibt Buch über erlebten Missbrauch

Stand: 26.11.2024 13:44 Uhr

Jahrelang sind die niedersächsische Ärztin Carmen Anders und ihre Kinder von Ehemann und Vater missbraucht worden. Mit der Veröffentlichung ihrer Geschichte möchte sie anderen Betroffenen Mut machen.

von Britta Nareyka

Wenn Carmen Anders ihre Geschichte erzählt, klingt es wie im Film oder in einem abgedrehten Psychothriller. Doch Gerichtsakten, Tagebucheinträge und Fotos belegen: alles, was sie sagt und in ihrem Buch aufschreibt, haben sie und die mittlerweile erwachsenen Kinder genau so erlebt. Carmen Anders ist nicht ihr richtiger Name, sondern ein Pseudonym, unter dem sie ihre Geschichte veröffentlicht. Erkannt werden möchte sie nicht, auch ihren genauen Wohnort nicht nennen, um weiterhin unbeschwert und unerkannt als Ärztin praktizieren zu können - in ihrem neuen Leben, irgendwo in Niedersachsen. 

Vom "American Dream" zum Albtraum

Was romantisch mit einem Urlaubsflirt beginnt, entwickelt sich mehr und mehr zum Albtraum. Nachdem Carmen Anders ihren zukünftigen Ehemann auf einer Bootstour im Mittelmeer kennenlernt, folgt sie ihm schließlich nach dem Abschluss ihres Medizinstudiums in seine Heimat Amerika. Charmant sei er gewesen von Anfang an, sagt sie. Heute weiß sie: es gab schon damals erste Warnsignale, die sie jedoch - jung und frisch verliebt - nicht erkannt habe. "Er hatte immer schon dieses Macht-Bedürfnis: alle müssen mir dienen, mir zu Füßen liegen", beschreibt die Ärztin sein Verhalten.

Kontrolle und Missbrauch

Eine Frau sitzt vor einem Laptop. © NDR
In ihrem Buch schreibt Carmen Anders über ihre Erlebnisse. Nach außen habe ihr Mann sich immer als liebevoller Vater und Ehemann ausgegeben.

Nach der Hochzeit und zwei gemeinsamen Kindern arbeitet Carmen Anders als renommierte Ärztin in hoher Position in einem Krankenhaus. Ihr gesamter Verdienst landet auf seinem Konto. "Er wollte immer die Kontrolle über mich haben", so Anders. In Amerika sei das so, habe er immer wieder erwähnt. Sie selbst habe irgendwann nur noch funktioniert, habe vieles ertragen - sogar Vergewaltigungen im Ehebett - um ihn bloß nicht wütend zu machen, sagt sie. "Denn darunter hätten dann vor allem die Kinder leiden müssen."

Immer krassere Erkenntnisse

Carmen Anders spürt, dass die Ausmaße noch deutlich größer sind. "Man hat mir nicht geglaubt", sagt sie. Äußerlich habe sich ihr Mann immer als liebevoller Vater und Ehemann ausgegeben. Erst viel später kommt raus: ihr Mann hat nicht nur seine Frau, sondern auch die Kinder regelmäßig missbraucht.

"Man hat mir nicht geglaubt"

Wenn Carmen Anders ihre Nachtschichten im Krankenhaus verbrachte, kroch er ins Bett der Tochter, um sich an ihr zu vergehen. Von ihrem Sohn entdeckte die Ärztin später unzählige pornografische Fotos auf dem Computer ihres Mannes. Carmen Anders versucht gerichtlich gegen ihren Mann vorzugehen, ein Kontaktverbot zu erwirken. Doch damit beginnt der nächste Albtraum.

"Mama, rette uns"

Es folgt ein jahrelanges Hin und Her vor Gericht mit diversen psychologischen Gutachten. Sogar an einen Lügendetektor wurde Carmen Anders angeschlossen, um ihre Aussagen zu überprüfen. Insgesamt sei es eine Odyssee durch das amerikanische Moral- und Rechtssystem, so beschreibt sie es in ihrem Buch. Vor allem die damals noch jungen Kinder litten zunehmend an der Situation. Sie wollten ihren Vater nicht wiedersehen, hatten Angst vor ihm und seiner Wut, so Carmen Anders. "Mama, rette uns", so ihr Hilferuf. In einer Nacht- und Nebelaktion packt die Ärztin schließlich die wichtigsten Sachen zusammen und flieht mit ihren Kindern nach Europa.

Leben im Untergrund

Eine Frau geht im Wald spazieren. © NDR
In Niedersachsen führen die Ärztin und ihre mittlerweile erwachsenen Kinder wieder ein weitestgehend normales Leben - ohne Angst vor Gewalt.

Jahrelang leben sie versteckt und ohne jeden Kontakt zu Freunden oder der Familie in den Niederlanden. "Es gab uns nicht", so beschreibt es die Ärztin. "Wir hatten keine Krankenversicherung, kein Konto, mussten uns versteckt halten."  Ihre Kinder habe sie in dieser Zeit zu Hause unterrichtet und immer versucht ihnen trotzdem ein besseres Leben zu ermöglichen. In den USA hat sie ihr Ehemann unterdessen angezeigt - wegen Kindes-Entführung. Sogar einen internationalen Haftbefehl habe es gegen sie gegeben, erzählt die Ärztin, der dann aber Jahre später doch wieder fallengelassen wird. Insgesamt sei es ein jahrelanger Kampf für den inneren Frieden gewesen.

Anderen Betroffenen helfen

Die Ärztin und ihre Kinder haben viel durchgemacht. Heute führen sie ein weitestgehend normales Leben. Carmen Anders hat in Niedersachsen eine eigene Praxis eröffnet, in der sie eine Anlaufstelle für Betroffene bietet. Sie will und kann nicht vergessen, was passiert ist. "Das Schweigen ist das, was so etwas überhaupt möglich macht", so die Ärztin. Darum habe sie sich dazu entschlossen ihre Geschichte zu erzählen und aufzuschreiben.

"Das Schweigen ist das, was so etwas überhaupt möglich macht"

"Wenn ich nur einer oder zwei Betroffenen damit helfen kann, dann hat es sich gelohnt." Ihr Appell: nicht wegsehen, nicht weghören, nicht verschweigen. Und vor allem auch die Kinder nicht vergessen, die in solchen Situationen besonders hilflos leiden müssten.

 

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