Stand: 25.11.2018 18:00 Uhr

Medizinprodukte: Zulassung leicht gemacht

Die niederländische Journalistin Jet Schouten hat gemeinsam mit Kolleginnen des niederländischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders "Avrotros"  jahrelang zur Zulassung von Medizinprodukten recherchiert. 2014 machten sie einen Test: Sie versuchten zu zeigen, wie einfach es ist, ein gefährliches Produkt auf den Markt zu bringen, ein sogenanntes Beckenbodennetz, das viele Frauen implantiert bekommen. Es soll die Beckenbodenmuskulatur unterstützen.

Jet Schouten
Jet Schouten löste die internationale Recherche "The Implant Files" aus.

Warum haben Sie überhaupt angefangen, zu Medizinprodukten zu recherchieren? 

Jet Schouten: Eigentlich begann alles mit einem Brief von einer Frau, die ein Beckenbodennetz bekommen hatte. Der Brief war so unglaublich und so schrecklich. Sie schrieb darüber, dass ihr dieses Netz implantiert worden war, und sie es wieder heraus haben wollte, aber es war nicht mehr möglich. Also habe ich mit ihr gesprochen, und ich habe mich gefragt, ob es mehr Frauen gibt, die das erleben. Das war also der Beginn dieser Geschichte.

Sie haben dann eine Dokumentation über die Beckenbodennetze produziert und gingen auch undercover. Was haben Sie herausgefunden? 

Schouten: Wir hatten von mehreren Experten gehört, dass das System der Marktzulassung für Medizinprodukte in Europa sehr schlecht sei. Zuerst konnten wir es nicht glauben, weil wir dachten, dass Europa hohe Standards habe und gut organisiert sein sollte. Aber die Experten sagten uns: 'Nein, es ist wirklich schlimm.' Also wollten wir das System selbst testen. Wir stellten uns als Hersteller dar, gingen undercover und verfolgten wirklich alle Schritte, die ein Hersteller auch unternimmt, um sein Implantat auf den Markt zu bringen. Wir erstellten eine technische Dokumentation, um damit zu den sogenannten Benannten Stellen zu gehen, die für die Zertifizierung zuständig sind.

Was ist ein Medizinprodukt?

Medizinprodukte sind Gegenstände, Apparate, Stoffe oder Instrumente, die am oder im Körper wirken. Sie greifen allerdings nicht wie Medikamente in den Stoffwechsel ein, sondern wirken physisch. Zu Medizinprodukten gehören beispielsweise Pflaster, Blutdruckmessgeräte, Herzschrittmacher oder auch Kondome. Die Produkte werden in vier Risikoklassen unterteilt. Zur niedrigsten Klasse I gehören zum Beispiel Verbandmaterial und Rollstühle. Zur höchsten Herzschrittmacher und Herz-Lungen-Maschinen.

Aber vorher waren Sie noch in einem Supermarkt...

Schouten: Ja, also, wir haben uns gedacht, wenn wir wirklich testen wollen, wie schlecht das System ist, muss unser Gerät sehr gefährlich und sehr lächerlich sein. Also haben wir ein Netz mit Mandarinen in einem Supermarkt gekauft und sind damit zu den Unternehmen, den Zertifizierungsstellen, gegangen und haben gefragt: Würden Sie das genehmigen? Und sie haben kein Problem gesehen.

Sie haben tatsächlich ein Zertifikat bekommen?

Schouten: Wir haben die Garantie bekommen, dass wir, wenn wir unseren Prozess fortsetzen würden, das CE-Zeichen erhalten würden. Damit könnte man dann das Produkt in ganz Europa verkaufen. Aber um das CE-Zeichen zu erhalten, wäre auch eine Werksinspektion nötig gewesen. Und wir hatten natürlich keine Fabrik. Aber wir hatten den Prüfstellen unsere technische Dokumentation zum Lesen gegeben. Die Beschreibung war im Übrigen voller sehr alarmierender Angaben. Wir hatten zum Beispiel reingeschrieben, dass 30 Prozent der Frauen durch unser Implantat dauerhaft geschädigt sein würden.

Und wir haben sie gefragt: Haben Sie das Dokument wirklich gelesen? Das wurde bestätigt. Insgesamt waren wir bei drei verschiedenen Stellen. Bei der ersten haben sie gesagt, zu 99 Prozent wird es akzeptiert. Wir konnten es nicht glauben, also wollten wir es ein weiteres Mal testen. Die zweite Stelle sah auch kein Problem. Also dachten wir uns, ok, versuchen wir es ein drittes Mal. Und da sagten sie: 'Das ist zu 100 Prozent sicher, dass Sie das CE-Zeichen bekommen können.'

Was sagt uns diese Geschichte über das System?

Schouten: Was meiner Meinung nach im europäischen System von Natur aus fehlerhaft ist, ist diese Geschäftsbeziehung zwischen Herstellern und Zertifizierern. Und wenn einem Hersteller die Antwort einer Benannten Stelle nicht gefällt, kann er zu einer anderen gehen und über den Preis und den Genehmigungsprozess beschleunigen. Wenn Sie einen höheren Preis zahlen, wird Ihr Produkt schneller freigegeben. Es ist wirklich eine Geschäftsbeziehung. Wir hatten ein Produkt auf die schlechteste Art und Weise hergestellt, die wir uns vorstellen konnten. Unser Produkt bestand aus einem Mandarinen-Netz. Unser Produkt würde Frauen für den Rest ihres Lebens dauerhaft schädigen. Und egal wie schlecht wir es dargestellt haben, immer noch wollten uns die Benannten Stellen zertifizieren, weil wir ihr Kunde waren. Wir waren ein Goldesel. Wir haben gezahlt und sie haben gesagt: 'Kein Problem, wir werden die Dinge klären.' Wir sagten: 'Vielleicht ist das ein Problem, vielleicht könnte das ein Problem sein', und sie sagten: 'Nein, wir können die Dinge regeln, wir können es umgehen.' Das war also wirklich das Schockierendste für mich, dass sie alles getan haben, um uns zu gefallen.

The Implant Files

An dem Projekt unter dem Titel "The Implant Files" waren mehr als 250 Journalisten von knapp 60 verschiedenen Medien aus 36 Ländern beteiligt. Darunter sind die BBC, Le Monde, AP sowie unter anderem Medien aus Japan, Südkorea, Pakistan, Indien, Argentinien, Brasilien, Mexiko und vielen europäischen Ländern. Koordiniert wurde die Recherche vom Internationalen Konsortium Investigativer Journalisten (ICIJ).

Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, zu dieser Branche der Medizinprodukte zu recherchieren?

Schouten: Ich denke, es ist sehr wichtig, die zugrundeliegende Struktur des Systems zu untersuchen, denn natürlich helfen bestimmte Implantate auch Menschen. Aber es gibt auch Produkte, die Menschen wirklich dauerhaft schädigen. Wir müssen die Fehler im System deutlich machen. Und wir müssen zeigen, dass eine Kombination aus niedrigen Anforderungen bei der Zertifizierung zusammen mit mangelnder Transparenz und Interessenkonflikten wirklich fatal sein kann für die Gesundheit der Patienten.

Das Interview führte Christian Baars.

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Das Erste | 26.11.2018 | 20:15 Uhr

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