Stand: 23.11.2016 13:25 Uhr

Wie kann Resozialisierung besser gelingen?

"Wer einmal im Gefängnis war, wird dorthin höchstwahrscheinlich wieder zurückkehren." Für Strafrechtler, Bewährungshelfer und alle anderen, die mit Gefängnissen zu tun haben, ist das eine Binsenweisheit. Aber muss das so sein? In den "NDR Info Perspektiven" schildern wir die Ausgangssituation und stellen ein Modellprojekt vor, das den sogenannten Drehtür-Effekt verhindern will.

Die Lage

Ein Häftling blickt durch einen Zaun in den Innenhof eines Gefängnisses. © NDR Foto: Özgür Uludag
Ein Problem: Oft sind Häftlinge nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis auf sich alleine gestellt.

Fast die Hälfte der Häftlinge wird nach der Entlassung aus dem Gefängnis mindestens ein zweites Mal zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. So zeigen es Zahlen des Bundesjustizministeriums. Der Rückfall kommt häufig schnell: Fast 40 Prozent begehen schon im ersten Jahr nach der Entlassung neue Straftaten.

Es kann also entscheidend sein, wie die ersten Tage, Wochen und Monate in Freiheit verlaufen. Aber in dieser Situation sind die frisch entlassenen Ex-Insassen ziemlich auf sich alleine gestellt. Ihre Bewährungshelfer betreuen bis zu 80 weitere entlassene Häftlinge, im Schnitt haben sie also für jeden eine halbe Stunde pro Monat Zeit.

Viele Ex-Häftlinge schaffen es nicht aus eigener Kraft, eine Arbeit und eine Wohnung zu finden. Sie fallen in alte Muster zurück: Spielsucht, Drogensucht, Alkohol und die falschen Freunde werden schnell wieder Teil des Alltags. Sie rutschen ab in die Beschaffungskriminalität, werden gefasst, verurteilt, kommen zurück ins Gefängnis.

Die Perspektive

Ein Aufseher schließt Tür einer Geschlossenen Unterbringung auf. © picture-alliance/dpa Foto: Maurizio Gambarini
Fast 40 Prozent der Häftlinge begehen schon im ersten Jahr nach der Entlassung neue Straftaten.

Viele Bundesländer beschäftigen sich gerade mit der Frage, wie Resozialisierung besser gelingen kann, um diesen "Drehtür-Effekt" künftig zu verhindern und Rückfallquoten zu senken. Bisher hat lediglich das Saarland ein Resozialisierungsgesetz, Hamburg will in Kürze als erstes Bundesland im Norden nachziehen - basierend auf Erfahrungen mit einem Modellprojekt an der Justizvollzugsanstalt Billwerder. Dort werden Straftäter bereits während der Haft und nach der Entlassung intensiv betreut. NDR Info hat sich dieses Projekt angesehen.

Der Sozialpädagoge Timm Meyer überquert den Innenhof der Justizvollzugsanstalt Billwerder in Hamburg. Auf dem Weg zu seinem ersten Beratungsgespräch muss er knapp ein Dutzend Türen auf und wieder zu schließen. Meyer arbeitet in dem Projekt mit dem sperrigen Namen "Fachstelle Übergangsmanagement" der Stadt Hamburg. Hier werden Häftlinge sechs Monate vor ihrer Entlassung auf das Leben in Freiheit vorbereitet und auch danach bei der Bewältigung des Alltags unterstützt. "Irgendwann wirst du entlassen, und dann stehst du vor dem Tor und wenn du dich um nichts gekümmert hast, dann passiert auch nichts", sagt Meyer. "Niemand schenkt dir irgendwas, es passiert nichts automatisch. Das ist die hohe Kunst, da dann am Ball zu bleiben."

Häftlinge bekommen Unterstützung

Einer der Klienten des Sozialpädagogen ist Harald Brand (Name geändert). Wegen Diebstahls ist er zu sechs Monaten verurteilt worden. Seit zwei Wochen sitzt er nun ein. Brand trägt ein kariertes Hemd, eine feinrandige Brille und einen akkurat getrimmten grauen Bart. Er fragt sich, was nun eigentlich mit seiner Wohnung passiert:

Meyer: "Also das Jobcenter, da waren Sie jetzt vorher im Leistungsbezug?"
Brand: "Ja."
Meyer: "Bevor Sie inhaftiert wurden?"
Brand: "Ja."
Meyer: "Gut. Das Jobcenter kommt für die Mietkosten nicht mehr auf. Haben Sie schon einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid bekommen?"
Brand: "Ähm, ich weiß jetzt nicht, also, ich meine, das waren eben so diese Sachen, die ich nicht genau wusste, wie das läuft, dass ich da eben noch mal von Ihnen noch mal ein bisschen informiert werde."
Meyer: "Genau."

Hilfe zur Selbsthilfe

Ein Insasse der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Hamburg-Billwerder blickt aus seinem vergitterten Zellenfenster. © dpa-Bildfunk Foto: Carsten Rehder
AUDIO: Projekt geht neue Wege in der JVA Billwerder (6 Min)

Das bundesweit einzigartige Projekt in der Justizvollzugsanstalt Hamburg-Billwerder verzahnt erstmals ambulante und stationäre Resozialisierung. Es bringt die staatliche und freie ambulante Straffälligenhilfe zusammen, sowie die Justizvollzugsanstalten, die Suchthilfe und die Schuldnerberatungsstelle -  zugeschnitten auf jeden einzelnen Häftling. Das Besondere ist, dass hier diejenigen betreut werden, die bislang keinen Anspruch auf Bewährungshilfe hatten.

Das oberste Ziel ist, dass die ehemaligen Häftlinge nicht wieder straffällig werden sollen, denn ohne besondere Betreuung scheitern viele schon kurz nach ihrer Entlassung am banalen Alltag. Dagegen arbeitet Sozialpädagoge Meyer an. Er schaut sich mit seinen Klienten zum Beispiel deren Wohnungssituation an, und hilft ihnen, zum Beispiel Räumungs-, Klage- oder Verfahrenskosten zu vermeiden. "Ich schaue aber auch: Okay, er kommt aus dem Nichts, er hat nichts, er hat vielleicht eine Drogenproblematik. Dann überlegen wir, in welche Richtung das gehen kann. Das ist ganz komplex."

Zwischenbilanz des Projekts fällt positiv aus

Das Projekt läuft nun seit zwei Jahren. Die Justizbehörde zieht eine positive Bilanz, sie will es auf alle Haftanstalten der Hansestadt ausweiten. Die Grundidee der verzahnten Hilfe soll die Basis des neuen Resozialisierungsgesetzes in Hamburg werden.

Auch der Kriminologe Bernd Maelicke, der an dem Konzept mitgearbeitet hat, ist größtenteils zufrieden. Er sieht nach mehr als 50 Jahren Berufserfahrung die Bewährungshilfe als zentrales Element der Resozialisierung: "Das Projekt weist nach, dass damit ihre Resozialisierung verbessert werden kann und zumindest in diesen ersten sechs Monaten nach der Entlassung die Rückfallquoten reduziert werden können. Die Rückfallquoten des Gefängnissystems sind sehr ernüchternd. Die liegen je nach Täter und Alter zwischen 50 und 70 Prozent, während wir umgekehrt bei ambulanten Maßnahmen, vor allem bei der Bewährungshilfe, Erfolgsquoten von 70 Prozent haben. Also man kann sagen, die sind doppelt so wirksam."

Der Betreuungsschlüssel des Hamburger Projekts könnte allerdings besser sein, sagt Maelicke. Auch hier seien noch zu wenige Betreuer für zu viele Gestrauchelte zuständig.

Haftstrafe als heilender Weckruf?

Der gestrauchelte Dieb Harald Brand jedenfalls hofft, dass er selbst zu den positiven Beispielen gehören wird und er sein Leben nach der Haft wieder in den Griff bekommt. Die Gefängnisstrafe war für ihn ein Weckruf, zumindest vorerst: "Was wünsche ich mir? Eigentlich, dass ich mich ein bisschen aus den Risikosachen raushalten kann und dass ich eigentlich so zufrieden bin. Dass ich mein Leben weiterleben kann mit meiner Freundin. Ansonsten ist eigentlich alles in Ordnung. Das war ein bisschen überraschend, diese Haftsache."

"NDR Info Perspektiven"
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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Perspektiven - auf der Suche nach Lösungen | 23.11.2016 | 08:08 Uhr

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