Türkei: "Es gibt noch Ruinen von halb eingestürzten Gebäuden"
Auch ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien ist die Notlage in vielen der betroffenen Regionen groß. Rettungsspezialist Holger Grinnus aus Hamburg war unmittelbar nach dem Beben vor Ort - und Monate später noch einmal.
Das Beben am 6. Februar 2023 in der Türkei und Syrien zählt weltweit zu den schlimmsten Naturkatastrophen der vergangenen hundert Jahre. Etwa 60.000 Menschen kamen ums Leben, mehr als 125.000 Verletzte wurden gezählt. Tagelang suchten Rettungs- und Hilfsteams nach Überlebenden.
Auch zwei Mitglieder des Bundesverbandes Rettungshunde aus Hamburg waren als Teil eines Teams der deutschen Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany vor einem Jahr in der Stadt Kirikhan in der Provinz Hatay im Einsatz. Im Interview mit NDR.de schildert Holger Grinnus seine Gefühlslage während der Arbeiten, zieht eine Bilanz des Einsatzes - und er spricht darüber, welche Hilfe vor Ort noch immer benötigt wird.
Herr Grinnus, das verheerende Erdbeben in der Türkei und in Syrien jährt sich jetzt zum ersten Mal. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an den 6. Februar 2023 zurückdenken?
Holger Grinnus: Das war ein erschreckender Moment, als wir frühmorgens von dem schweren Erdbeben erfahren haben. Meiner Frau und mir war sofort bewusst, dass wir da jetzt hin müssen. Schon kurz nach dem Aufstehen war das Equipment gepackt, um 10 Uhr waren wir schon auf der Autobahn Richtung Köln. Von dort sind ein insgesamt 60-köpfiges Team aus ganz Deutschland, sieben Personenspürhunde und unsere gesamte Ausrüstung in einer Charter-Maschine schnell in die Türkei geflogen. Am Flughafen Gaziantep waren die Einreise-Formalitäten zum Glück schnell erledigt, sodass es direkt ins Erdbeben-Gebiet weiterging.
Wie lange waren Sie mit ihrem Team und den Hunden in der Stadt Kirikhan in der Provinz Hatay vor Ort?
Grinnus: Wir waren zehn Tage im Einsatz. Das ist die Zeitspanne, in der es nach solch einem Unglück am wahrscheinlichsten ist, noch Überlebende unter den Trümmern zu finden. Jeder von uns in diesem Team hat bei solchen Rettungseinsätzen mehrere Aufgaben. Das gilt für die Hundeführer genauso wie für das Personal für die technische Ortung, das medizinische Personal oder die Ärzte.
Sie hatten den Auftrag, in den Trümmern nach Menschen, nach Überlebenden zu suchen. Waren Sie dabei nur fokussiert auf die Rettungsarbeit - oder auch emotional aufgewühlt durch das, was sie dort gesehen und erlebt haben?
Grinnus: Man ist schon auch emotional berührt, alles andere wäre ja auch falsch, aber man muss an die Arbeit natürlich professionell herangehen und sich auf das konzentrieren, was aktuell gefragt ist - nämlich Menschenleben retten. Wenn dafür zum Beispiel ein Betonträger zur Seite bewegt werden muss, darf man natürlich sich selbst und andere nicht in Gefahr bringen. Da gehört ganz viel Konzentration zu. Und alle Abläufe müssen funktionieren. Nichtsdestotrotz gibt es jedes Mal große Freude und großen Jubel, wenn wir eine Person lebend aus den Trümmern retten können.
Sie haben Überlebende gerettet, konnten aber nicht allen Verschütteten helfen. Werten Sie den Einsatz trotzdem nachträglich als Erfolg?
Grinnus: Ich denke, dass nahezu jeder Einsatz von uns ein Erfolg ist. Es hört sich vielleicht seltsam an, aber: Auch wenn wir einen Toten aus den Trümmern bergen, sind die Angehörigen froh, wenn sie sich von ihm verabschieden können. Das ist auch eine ganz große Hilfe, die wir da leisten. Natürlich liegt die Priorität darauf, Menschenleben zu retten. Und wenn wir nur eine Person gerettet haben, ich denke, dann haben wir alles richtig gemacht.
Wie verarbeiten Sie einen Einsatz wie den im vergangenen Jahr in der Türkei?
Grinnus: Nach jedem Einsatz, den wir international fahren, trifft sich das gesamte Team noch mal. Dort wird besprochen, was alles während des Einsatzes passiert ist. Was haben wir vielleicht nicht ganz so optimal hingekriegt? Was können wir verbessern? Was müssen wir anders machen? Wie geht es uns? Sind alle damit klargekommen? Was haben wir erlebt? Das wird alles noch mal an einem kompletten Wochenende mit dem gesamten Team besprochen. Und so ist jedes Einsatzende auch gleich schon wieder die Vorbereitung auf den nächsten Einsatz.
Sie sind im vergangenen September noch einmal in die Erdbebenregion geflogen, wo Sie im Februar geholfen hatten. Warum?
Grinnus: Wir leisten mit I.S.A.R. Germany und dem Bundesverband Rettungshunde seit dem Erdbeben vor einem Jahr noch immer Hilfe vor Ort. Wir bringen dort Hilfsgüter hin, vor allem Bekleidung. Meine Aufgabe im Herbst war es in diesem Zusammenhang zu gucken, ob die Hilfsgüter auch so verwendet werden wie gedacht. Also: Kommen sie dort an, wo sie ankommen sollen? Und was braucht die Türkei eventuell noch an Hilfe direkt vor Ort?
Sie kennen aktuelle Bilder aus dem Katastrophen-Gebiet und sind in Kontakt mit Hilfsorganisationen und Menschen vor Ort. Wie sieht es dort jetzt aus? Geht der Wiederaufbau schon voran?
Grinnus: Da gibt es große Unterschiede. Im Bereich um die Stadt Kirikhan, wo wir im Februar im Einsatz waren und wohin wir auch jetzt unsere Hilfsgüter liefern, gibt es zwar noch viele Containerdörfer, aber zumindest müssen die Menschen dort nicht mehr in Zelten leben. Und es wurde bereits viel Schutt, also die Trümmer von eingestürzten Häuser abtransportiert. Teilweise sind sogar schon Neubauten entstanden. Auf der anderen Seite gibt es aber auch noch Ruinen von halb eingestürzten Gebäuden, die kurz vor dem Totalzusammensturz sind und noch genauso über der Straße hängen wie vor einem Jahr. Aber in anderen Gebieten, da habe ich Bilder gesehen, sieht es momentan noch deutlich schlechter aus als in Kirikhan.
Sie helfen mit Ihrem Team weiter, sie bringen Hilfsgüter in die Region. Was können denn die Menschen in Norddeutschland, die helfen wollen, tun?
Grinnus: Auch wenn es sich vielleicht platt anhört: Ich glaube, die richtige Wahl sind Geldspenden. Wir vom Bundesverband Rettungshunde prüfen bei Spenden, die wir bekommen, wo derzeit die größte Hilfe nötig ist oder welche Art von Hilfe nötig ist. Wir arbeiten zum Beispiel auch mit einer türkischen Spedition zusammen, wo wir die Mitarbeitenden persönlich kennen, wo wir gute Konditionen bekommen. Wir kaufen zum Teil in der Türkei ein und lassen die Ware dann ins Schadensgebiet bringen. Zum Teil verteilen wir sie selber vor Ort. Auf jeden Fall sind wir immer dabei und haben alles lückenlos dokumentiert, wo was an Hilfe hinkommt. Damit das Geld, das wir an Spenden einsammeln, dann dort landet, wo es gebraucht wird. Ob die Spende an den Bundesverband Rettungshunde in Hamburg, an I.S.A.R. Germany oder an die Aktion Deutschland hilft geht - jede Spende hilft den betroffenen Menschen im Erdbebengebiet.
Das Interview führte Uli Petersen.