Stand: 01.12.2016 13:38 Uhr

Hamburger Zahnarztpraxis bildet Gehörlose aus

Mit der vom Bundestag am Donnerstag verabschiedeten Neufassung des Bundesteilhabegesetzes wird unter anderem Arbeitgebern die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung erleichtert. Sie sollen lang andauernde Lohnkostenzuschüsse erhalten. Eine solche Maßnahme scheint dringend nötig, denn bislang sind immer noch sehr viele - auch gut qualifizierte - Menschen mit Behinderungen arbeitslos. In der Reihe "NDR Info Perspektiven" beleuchten wir die aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt und richten den Fokus konstruktiv auf einen Lösungsansatz: Wir stellen ein Beispiel aus Hamburg vor, in dem Inklusion auf dem Arbeitsmarkt trotz aller Schwierigkeiten gelingt.

Wie viele schwerbehinderte Menschen in Deutschland sind arbeitslos?

Aktuell sind etwa 178.000 schwerbehinderte Menschen in Deutschland ohne Job. Ihre Arbeitslosenquote ist mit mehr als 13 Prozent fast doppelt so hoch wie die Quote von Menschen ohne Behinderung. Das geht aus dem sogenannten Inklusionsbarometer Arbeit der Aktion Mensch hervor. Zwar steigt die Zahl der berufstätigen schwerbehinderten Menschen seit Jahren leicht an, und es gibt erste Erfolge bei der Inklusion am Arbeitsmarkt - aber es könnten mehr sein.

Wie ist die Förderung inklusiver Arbeit bisher geregelt?

In einem Betrieb mit mehr als 20 Mitarbeitern muss eigentlich eine Beschäftigungsquote eingehalten werden: Fünf Prozent der Mitarbeiter sollen Schwerbehinderte sein. Wer diese Zahl nicht erreicht, zahlt eine Ausgleichsabgabe. Für jeden unbesetzten Arbeitsplatz sind das zwischen 115 und 290 Euro - pro Monat. Aber ein Viertel der Betriebe in Deutschland zahlt nach wie vor lieber, als einen schwerbehinderten Menschen einzustellen

Warum ist es überhaupt ein Problem, wenn Betriebe keine Schwerbehinderten einstellen?

Die Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Teilhabe. Dazu kommt, dass auch viel Potenzial verloren geht. Schwerbehinderte Arbeitslose sind laut Statistik der Bundesarbeitsagentur sogar besser qualifiziert als die meisten anderen Arbeitslosen. Anteilig finden sich bei schwerbehinderten Arbeitslosen mehr Fachkräfte als bei nicht schwerbehinderten Arbeitslosen.

Trotzdem finden sie häufig nur Arbeit in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, ohne Kontakt zu nicht behinderten Menschen. Verbände klagen über weiter hohe Barrieren in den Betrieben. Oft scheitert die Beschäftigung von behinderten Menschen demnach an Vorurteilen oder mangelndem Mut seitens der Arbeitgeber.

VIDEO: "Ich hoffe, dass wir ein Vorbild sein können" (1 Min)

Die Perspektive

Doch es gibt auch Menschen, die genau diesen Mut haben. Menschen, die ihren Betrieb so umstellen, dass inklusive Arbeit gelingt. So werden zum Beispiel in einer Zahnarztpraxis in Hamburg Gehörlose zu zahnmedizinischen Fachangestellten - früher sagte man Zahnarzthelfer - ausgebildet. NDR Info hat sich in dieser Praxis umgesehen.

Eine Zahnärztin und ein angehender Zahnarzthelfer behandeln einen Patienten. © NDR Info Foto: Bettina Less
Kommunikation in Gebärdensprache: Zahnärztin Marianela von Schuler Alarcón (l.) und der Auszubildende Fred Jacobsen behandeln einen Patienten.

Die Zahnärztin Marianela von Schuler Alarcón und ihr Auszubildender Fred Jacobsen beugen sich über eine Patientin. Sie kommunizieren lautlos per Gebärdensprache. Dazu krabbelt die linke Hand der Ärztin waagerecht in der Luft, die Finger machen Kratzbewegungen. Das bedeutet: Die Patientin hat ein Loch im Zahn.

Die aus Venezuela stammende Marianela von Schuler Alarcón kann ganz normal hören. Sie brachte sich die Gebärdensprache neben dem Zahnmedizin-Studium selbst bei. Anfangs nur, um gehörlose Patienten zu behandeln, wie sie berichtet: "Am Anfang habe ich mit zwei Händen angefangen. Aber ich habe gemerkt, dass ich nicht beide Hände loslassen kann, denn dann muss ich die Behandlung immer stoppen." Die Zahnärztin passte einige Gebärden an, sodass sie mit nur einer Hand gemacht werden können, während die andere die Instrumente hält. Ob sie spreche oder die Kommunikation mit den Händen anzeige, mache keinen Unterschied: "Das geht dann ziemlich schnell."

1.000 Bewerbungen auf eine Stellenanzeige

Kinga Ostrowski, gehörlose Zahnarzthelferin, mit einem herunter geklappten Mundschutz. © NDR Info Foto: Bettina Less
Kinga Ostrowski ist froh, dass sie trotz ihrer Gehörlosigkeit in der Zahnarztpraxis arbeiten kann.

Als von Schuler Alarcón vor drei Jahren ihre Praxis eröffnete, suchte sie von Anfang an nach gehörlosen Auszubildenden. Sie war die erste Ärztin in Deutschland, die diesen Schritt wagte. Auf eine Stellenanzeige per Video in Gebärdensprache erhielt sie mehr als 1.000 Bewerbungen.

Eine der ersten Auszubildenden in der Hamburger Praxis war die 34-jährige Kinga Ostrowski, die mittlerweile festangestellt ist. Sie ist von Geburt an taub. Ihre Gebärden sind lebhaft und schnell: "Ich war von der Idee begeistert, endlich im medizinischen Bereich zu arbeiten. Davon habe ich immer geträumt." Sie ist froh, dass die Zahnärztin ihr diese Arbeit von Beginn an zugetraut hat und sie so in der Praxis mit Menschen zu tun hat. "Bei Bewerbungen in andere Berufe habe ich wahnsinnig viele Absagen bekommen. Das war schon sehr enttäuschend und deprimierend."

Sprachbarrieren überwinden

Zahnärztin Marianela von Schuler Alarcón weiß aus eigener Anschauung, wie die Sprachbarriere sich anfühlt. Als sie aus Venezuela nach Deutschland kam, fühlte sie sich anfangs sehr allein - bis sie gut genug Deutsch konnte. Als sie zufällig einen Gehörlosen kennenlernte, wurde ihr klar: Für Menschen wie ihn ist die Sprachbarriere ein Dauerzustand, er kann sie alleine nicht überwinden: "Ich habe das Gefühl, sie sind Fremde in ihrem eigenen Land. Die Menschen, die hörende Welt, gibt ihnen keine Chance, einen ganz normalen Job zu machen. Da habe ich gedacht: Das muss man einfach nur machen."

Terminabsprache per WhatsApp und E-Mail

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Die Zahnärztin Marianela von Schuler Alarcón mit ihren gehörlosen und normalhörenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in ihrer Praxis. © NDR Info Foto: Bettina Less
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Eine Zahnarztpraxis in Hamburg bildet hörgeschädigte Menschen aus und schafft so neue Perspektiven für die Inklusion am Arbeitsmarkt. Bettina Less berichtet in der Reihe "NDR Info Perspektiven". 7 Min

Im neunköpfigen Team der Praxis sind die Gehörlosen inzwischen in der Überzahl: drei noch in Ausbildung, zwei schon ausgelernt und angestellt. Das bedeutet allerdings, dass die Praxis Telefonanrufe nicht immer sofort annehmen kann - wenn etwa die normalhörende Mitarbeiterin am Empfang einen freien Tag hat. Termine kann man deswegen auch über WhatsApp oder E-Mail vereinbaren. Auch die normalhörenden Patienten akzeptieren diese Einschränkungen. "Das hat mir eine neue Welt eröffnet. Die Zahnärztin beantwortet auch alle Fragen, wenn ich welche habe", sagt eine Patientin.

Großes Lob für die Auszubildenden

Nur einige wenige Patienten blieben irgendwann weg. Sie sagten, dass sie das Schicksal der Gehörlosen zu sehr deprimiere. Dafür gebe es aber überhaupt keinen Grund, sagt Zahnärztin von Schuler Alarcón. Ihre Auszubildenden seien keine Opfer, ganz im Gegenteil: "Die sind genau geschaffen für den Beruf. Sie sind sehr, sehr gute Mitarbeiter, sie haben sehr gute Augen, sie können alles sehr gut erkennen, und sie arbeiten ziemlich schnell und leise. Das ist fantastisch." Dabei lacht sie ein bisschen.

"Wir Gehörlosen sind genauso kompetent wie jeder andere"

So qualifiziert sie auch sein mögen: Von Schuler Alarcón kann nicht alle ihre Azubis nach der Ausbildung in ihrer Praxis übernehmen. Die Zahnärztin sucht noch nach künftigen Arbeitgebern für sie, aber das Interesse ist bis jetzt eher verhalten. Immerhin: Kinga Ostrowski und die anderen Gehörlosen in der Praxis sind froh, dass zumindest der erste Schritt gemacht ist: "Ich möchte, dass alle sehen, dass wir als Gehörlose genauso kompetent sind wie jeder andere. Wenn mehr Praxen oder Arbeitgeber unserem Beispiel folgen würden, das wäre mein Traum."

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Dieses Thema im Programm:

NDR Info | Perspektiven - auf der Suche nach Lösungen | 01.12.2016 | 06:20 Uhr

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