Amoklauf in Winnenden - Lehren aus medialen Übertretungen?
Was ZDF-Reporter Anton Jany vor nun zehn Jahren in Winnenden erleben musste, hat den Reporter zwischenzeitlich in die Verzweiflung getrieben. "Ich habe nach Winnenden überlegt, ob ich meinen Job als Journalist an den Nagel hänge, weil ich es persönlich nicht ertragen habe", sagt Jany heute. 2009 war er für das ZDF vor Ort. Mit den Toten und dem Leid der Trauernden müsse ein Journalist umgehen, so wie Polizisten und Rettungskräfte. Ihn habe aber "das Drumherum" belastet: "Ich habe irgendwann einen Punkt erreicht, wo ich gesagt habe, ich möchte mit dieser Berufsgruppe, die jetzt hier auftritt, nichts zu tun haben."
Nachdem ein Jugendlicher 15 Schüler und Lehrer erschossen und sich selbst hingerichtet hatte, fiel in Winnenden bei Stuttgart die Weltpresse ein. Es bildete sich ein ganzes Camp aus Übertragungswagen. Die kleine Stadt wurde förmlich belagert. Jany erinnert sich an Kameraleute, die "mit Zigarette im Mund zwei Meter von weinenden Menschen, von trauernden Menschen" standen. Einigen Reportern sei das Äußere wichtiger gewesen als der Inhalt. "Man musste zwischen den Trauernden erst mal Rouge auftragen und gucken, ob die Bluse sitzt", berichtet Jany. "Es hatte einen Charakter von Kirmes, von Jahrmarkt, in ganz übler Weise."
Tauschgeschäfte auch von Öffentlich-Rechtlichen?
Die Jagd nach Informationen führte Journalisten auch zur örtlichen Zeitung, erzählte damals Frank Nipkau von der "Winnender Zeitung" gegenüber ZAPP. So hätten auch öffentlich-rechtliche Sender einen Tausch angeboten: Fotos des Attentäters gegen eine Einblendung der Zeitung in den Hauptnachrichten. Auch Redakteure bekannter Zeitschriften hätten angerufen, um zu erfahren, welche Lehrer tot seien. Das habe ihn "fassungslos" gemacht, sagte der damalige Lokaljournalist.
Halt machten die Reporter auch nicht vor den Hinterbliebenen der getöteten Kinder. ZAPP sprach damals einige Wochen nach der Tat mit drei Eltern. Sie berichteten von Journalisten, die sie an der Haustür bedrängten, um an Bilder ihrer toten Töchter zu kommen. "Meine Tochter ist ermordet worden, da wollte ich einfach keinen Kontakt haben", erzählte ein Vater. "Die lieben Reporter haben sich aber daran nicht gehalten. Die haben dann die Bildergalerie unseres Karnevalsvereins durchgeschaut und dort Fotos gefunden."
Trauerfeier: Kameraleute ignorieren das Filmverbot
Eine Mutter berichtete ZAPP wiederum, dass sie auch beim Abschied nehmen von ihrer Tochter mit rücksichtslosen Medienvertretern rechnete. "Damit sich jeder verabschieden kann, haben wir unsere Tochter offengelassen", sagte die Mutter. "Ich hatte wirklich große Angst, dass noch jemand mit dem Handy in den offenen Sarg fotografiert und dass ich das am nächsten Tag dann im Fernsehen oder in der Zeitung sehen muss."
Im Namen der Berichterstattung gab es in Winnenden oft keine Grenzen. Die Polizei riegelte schließlich die Trauerstelle ab. Über den Friedhof verhängten die Beamten ein Film- und Fotografierverbot. Doch selbst darüber setzen sich einige hinweg: Sie kletterten auf Autodächer und filmten von dort über die Mauern hinweg.
"Bizarr und abstoßend": SWR-Repoter schämt sich
Welche Spuren manch ein "Kollege" hinterlassen hatte, merkte auch SWR-Reporter Knut Bauer, der für den ARD-Hörfunk vor Ort war. Als er einen Laden betrat, warf die Verkäuferin den Reporter beinahe raus. "Dann kam ein anderer Mitarbeiter oder ihr Sohn und hat das Gespräch übernommen", erinnert sich Bauer. "Er hat mir erzählt, dass am Tag vorher auch Boulevardjournalisten da waren, die Geld auf den Tisch gelegt haben, um Konfirmationsfotos von den toten Schülerinnen und Schülern zu bekommen." All das sei "bizarr und abstoßend", sagt Bauer. Er habe sich geschämt.
Damals wurde auch im Journalismus viel über die Grenze zum Voyeurismus diskutiert. Beide Reporter glauben jedoch nicht, dass sich etwas geändert hat. "Es wiederholt sich fast alles", sagt Jany. Er führt das auf zwei Entwicklungen zurück. Zum einen sei "der Markt da": Solange einzelne Redaktionen Sensationsbilder und -geschichten veröffentlichen wollten, werde es auch immer jemanden geben, der sie liefere. Zum anderen kämen immer mehr fragwürdige Kollegen in die Szene, getrieben durch günstigere Technik und den Journalismus als offenen Beruf.
Opferbilder aus dem Netz: Winnenden ist eine "Zäsur"
Auch für Rechtsanwalt Christian Schertz, der sich auf Persönlichkeitsrechte spezialisiert hat, ist Winnenden eine "Zäsur". Es geht um soziale Netzwerke, die 2009 populär wurden. Einige Medien bedienten sich damals in den Profilen vor allem bei SchülerVZ, um bequem an Fotos der Opfer heranzukommen. Dabei bestehe das Recht am eigenen Bild über den Tod hinaus, mahnt Schertz. Die Angehörigen müssten dann entscheiden, ob ein Foto gezeigt werden dürfe oder nicht.
Solche "Opfergalerien" - mal Fotos aus Jahrbüchern, immer öfter aber offensichtlich aus den Profilen der Toten - bringen Medien auch nach Winnenden immer wieder: Nach dem Amoklauf in München, zum Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt und dem Absturz der Germanwings-Maschine. "Es ist einer der Standardfälle, die wir haben", sagt Schertz. Er mahnt aber auch: "Es ist natürlich auch die Folge davon, dass die Menschen heutzutage alles von sich preisgeben. Das heißt, die Menschen und auch - man muss fast zynisch sagen: die späteren Opfer - stellen halt oft das von sich ins Netz, was die Medien dann auch nutzen können."
SWR-Reporter Bauer erinnert sich unterdessen an ein Gespräch mit einem Vater, der seine Tochter beim Amoklauf in Winnenden verloren hat. "Er sagte mir, die Jahrestage sind für ihn das Schlimmste, weil da stirbt seine Tochter jedes Mal wieder neu und er ein Stückchen mit", erzählt Bauer. "Ich glaube, das sollte man sich immer vergegenwärtigen, dass das niemals aufhört für die Hinterbliebenen." Auch nach zehn Jahren ist vor allem eines gefragt: Respekt.