Wer ist eigentlich behindert?
Wenn Natalie Dedreux von ihrem Beruf erzählt, ist ihr Gegenüber im ersten Moment oft überrascht. Die junge Frau hat das Down-Syndrom. Und sie ist Journalistin.
Menschen mit Down-Syndrom werden meist unterschätzt. Ihr Leben und ihre Sicht auf das Leben sind in etablierten Medien selten Thema. Natalie Dedreux will mit ihren Texten Fragen stellen: Wer ist eigentlich behindert? Und wer definiert Behinderung? Die 22-Jährige führt ein selbstständiges Leben. Wohnt in einer WG mit drei Mitbewohnerinnen, hat einen Job, verdient eigenes Geld.
Die Menschen erwarteten nicht, dass jemand mit Down-Syndrom auch etwas bewege, meint Dedreux. Es scheine eine Art Mechanismus in der Gesellschaft zu geben, der festlege, wer behindert sei und wer nicht, erklärt ihre Redaktionsleiterin Katja de Bragança. Die Kategorie "behindert" findet sie "schwachsinnig.
Stärken und Schwächen wie alle anderen
Der "Ohrenkuss" ist ein Kulturmagazin. Alle Autorinnen haben das Down-Syndrom. Damit ist das Heft in Deutschland einzigartig. Redaktionsleiterin Katja de Bragança hat das Magazin vor 22 Jahren gegründet. Es erscheint zweimal im Jahr, jeweils monothematisch. De Bragança ist eine der wenigen Redaktionsmitglieder, die nicht das Down-Syndrom haben. Sie sieht ihre Kolleginnen nicht als behindert. "Sie haben Stärken und sie haben einen anderen Blick, und deswegen arbeiten sie mit. Und das ist auch gut so."
Natalie Dedreux arbeitet 20 Stunden pro Woche für das Ohrenkuss-Magazin. Zweimal im Jahr erscheint ein monothematisches Heft. Die Redaktion lebt vom Verkauf der Hefte, aber auch von Spenden. In Vor-Corona-Zeiten veranstaltete die Mitglieder regelmäßig Lesungen. Nach Angaben der Redaktion lesen rund 2.600 Abonnenten regelmäßig den "Ohrenkuss". Darunter: Andere Journalisten, Angehörige von Menschen mit Down-Syndron, Studentinnen. Für die Abonnenten ist der Ohrenkuss ein Blick über den Zaun, sagt de Bragança.
Journalistische Neugier mit anderer Perspektive
Ende 2015 kam Natalie Dedreux über eine Schreibwerkstatt zum Ohrenkuss. Sie zeigt ihre Lieblingsausgabe, die über die Ukraine. Dafür hat die Redaktion sogar eine Recherchereise nach Kiew unternommen. In ihren Texten schreiben sie über das Leben von Menschen mit Down-Syndrom in der Ukraine, aber auch über Arbeitslosigkeit und Politik. "Viele denken, Menschen mit Down-Syndrom können nicht lesen und nicht schreiben und das stimmt nicht. Wir sind ja klug und können das alles," sagt Dedreux mit Nachdruck.
Sie hat schon mehrere journalistische Praktika gemacht. Zuletzt beim Deutschlandfunk. Dort verfasste sie Nachrichtenmeldungen in leichter Sprache, führte Interviews, etwa mit einer geflüchteten Familie. Für Natalie Dedreux war das Besondere daran "mit Menschen zu sprechen, die man noch gar nicht kennt".
Interviews mit Menschen, die viele als "die Anderen" sehen, denen viele mit Vorurteilen begegnen. Wie auch Menschen mit Down-Syndrom. Neben ihrer journalistischen Arbeit ist Dedreux auch Aktivistin. Sie hat eine Petition gestartet, setzt sich gegen die Abtreibung von Kindern mit Down-Syndrom ein, ist dagegen, dass der Bluttest auf Down-Syndrom eine Krankenkassenleistung wird.
Sie und ihre Kolleginnen bekommen in den Redaktionssitzungen des Ohrenkuss‘ Unterstützung von einer Schreibassistentin. Manche Autorinnen schreiben ihre Texte zwar selbst, doch viele diktieren sie lieber. Die Assistentin schreibt mit. Die Ausgabe hat das Schwerpunktthema "Natur". Die Ohrenkuss-Autorinnen arbeiten wie andere Journalisten auch: Sie nehmen die Welt auf ihre Weise wahr, recherchieren und beschreiben sie in ihren Worten. Der Ohrenkuss, der dann gedruckt und versendet wird, lässt andere Menschen an diesem Blickwinkel teilhaben.