Unvergesslich: Die Lehren der "Spiegel"-Affäre
Der "Spiegel" vom 10. Oktober 1962 hat Geschichte geschrieben. Und das nicht, weil auffallend viel Werbung für hochprozentigen Alkohohl drin ist, sondern weil dieser "Spiegel" der Grund für den ersten massiven Angriff auf die damals noch junge Pressefreiheit war. Am Ende ist sie allerdings gestärkt aus der Affäre hervorgegangen - genau wie der "Spiegel".
Die aus heutiger Sicht eher dröge Titelstory löste damals nicht weniger als eine Staatskrise aus: die "Spiegel"-Affäre. Das Interesse von Medien und Politik daran ist noch immer immens, auch auf der "Spiegel"-Konferenz, 50 Jahre danach.
Nikolaus Brender, ehemaliger Chefredakteur ZDF: "Ich glaube die Affäre und das Ergebnis dieser Affäre hat sich tief in das Bewusstsein der Politiker aber auch in das der Journalisten eingegraben."
Theo Sommer, damals Redakteur bei der "Zeit": "Weil es doch ein ganz entscheidender Wendepunkt war in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wie ich damals geschrieben habe: Es war das Ende des deutschen Obrigkeitsstaates."
Martin Doerry, stellvertretender Chefredakteur des "Spiegel": "Ich glaube, die Erfahrung dieser Affäre hat sich in die DNA der Redaktion eingesenkt."
Vorwurf "Landesverrat"
Für viele Historiker war die "Spiegel"-Affäre ein später Geburtshelfer der deutschen Pressefreiheit. 26. Oktober 1962: Vor dem Pressehaus des "Spiegel" tauchen Polizisten auf. In wenigen Minuten legen die Beamten die Arbeit der Redaktion lahm. Der Grund: In der Titelgeschichte hatte der Spiegel kritisch über den Zustand der Bundeswehr berichtet. Das Credo des Artikels: Im Falle eines Angriffs sei Deutschland nur "bedingt abwehrbereit". Zu einer Verteidigung mit konventionellen Waffen sei das Land im Gefahrenfall "nicht fähig". Hatten die Journalisten dafür vertrauliche Informationen verwendet? In den Augen von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß ist der Artikel ein Affront, der CSU-Minister wirft dem Spiegel "Landesverrat" vor. Der Vorwurf: Die Journalisten hätten Staatsgeheimnisse verraten und damit die Sicherheit des Landes gefährdet.
Sieben Spiegel-Mitarbeiter werden festgenommen, darunter auch Herausgeber Rudolf Augstein, der sich zwei Tage später der Polizei stellt. Doch Tausende Menschen protestieren gegen das brachiale Vorgehen von Staat und Justiz. Für die Demonstranten ist der Fall klar: Die Besetzung der Spiegel-Redaktion ist ein massiver Verstoß gegen die Pressefreiheit. Im Bundestag verteidigt Kanzler Adenauer am 7. November ’62 das harte Vorgehen: "Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande. Denn wenn von einem Blatt das in einer Auflage von 500.000 Exemplaren erscheint, systematisch um Geld zu verdienen Landesverrat betrieben wird."
Dann müsse die Politik einschreiten, glaubt der Kanzler. Doch das Vertrauen in die Regierung schwindet. Besonders Strauß gerät immer mehr unter Druck: Er soll schon länger auf eine Gelegenheit gewartet haben, um gegen das unbequeme Magazin vorzugehen. Doch im Bundestag beteuert er seine Unschuld: "Ich habe mit der Ingangsetzung des Verfahrens und mit den Amtshandlungen des Verteidigungsministeriums bis zur Durchführung der staatsanwaltschaftlichen Maßnahmen (…) nichts zu tun."
Kritik an Strauß
Damit überzeugt Strauß nicht einmal die eigenen Leute, im Gegenteil: Die fünf FDP-Minister der Regierung reichen ihr Rücktrittsgesuch ein. Ein Debakel für die Regierung Adenauer. Die Kritik an Strauß' Vorgehen reißt nicht ab, sodass er im November ‘62 zurücktreten muss. Für die meisten Deutschen ist "Der Spiegel" von da an das "Sturmgeschütz der Demokratie", das die Pressefreiheit auch gegen die Staatsmacht verteidigt.
Hans Detlev Becker, Spiegel Verlagsdirektor 1962: "Die Nummer 45 ist in Arbeit. Wir wollen sie in vollem Umfange, mit etwas unkonventionellem Umbruch, pünktlich, in erhöhter Auflage mit dem Titelbild Rudolf Augstein herausbringen."
Die Druckpressen des "Spiegel" laufen wieder. Der Vorwurf des Landesverrates wird dagegen erst Jahre später von einem Gericht entkräftet. Nach 103 Tagen kommt Herausgeber Augstein als letzter Spiegelredakteur aus dem Gefängnis. Rudolf Augstein: "Vielleicht sind wir durch die Affäre klüger geworden, und dann hat sie uns genützt, vielleicht sind andere Leute durch die Affäre klüger geworden, dann hat sie uns indirekt auch genützt."
Finanziell hat sich die Affäre für den Spiegel definitiv gelohnt
Dank des Skandals wurden allein im Quartal direkt nach der Affäre rund 15 Prozent mehr Spiegel-Ausgaben verkauft als zuvor. Und auch 2012, 50 Jahre später, kann der Spiegel das Ereignis noch für sich nutzen, um Werbung in eigener Sache zu machen, aber auch um für die Pressefreiheit zu werben.
Martin Doerry: "Man darf sich nicht beugen. Man darf sich dem äußeren, dem politischen Druck nicht beugen, sondern man muss sein Ding verfolgen und das hat 'Der Spiegel' damals gemacht, das tun viele Medien und das ist auch das Erfolgsprinzip der Presse generell. Man darf sich dem äußeren Druck, ob er aus der Wirtschaft kommt, aus der Politik, nicht beugen."