Missbrauchsvorwürfe: Radio-Boykott gegen Michael Jackson?
"Wir Fans sind enttäuscht, wir sind entsetzt!", brüllt eine Demonstrantin in ihr Megafon. Der Grund für ihre Entrüstung: ProSieben zeigte am vergangenen Samstag "Leaving Neverland" - die derzeit "am meisten diskutierte Dokumentation der Welt". Sie handelt von zwei Männern, die erzählen, sie seien als Kinder jahrelang missbraucht worden - von Michael Jackson, dem größten Popstar seiner Zeit.
Etwa 60 Jackson-Fans demonstrieren gegen diese Dokumentation - in Unterföhring bei München, vor der Zentrale von ProSieben. Der Sender zeigte die Doku am vergangenen Samstag erstmals in Deutschland. Vier Stunden, nur durch einen einzigen Werbeblock unterbrochen - ungewöhnlich für einen kommerziellen Sender, der für diesen Film viel Geld bezahlt hat.
Unstimmingkeiten bringen Fans ins Rage
"Viele Dinge aus der Doku wurden bereits widerlegt", sagt Jasmina Maameri, die die Demo organisiert hat. "Deshalb ist es für uns völlig unverständlich, dass ProSieben das zeigt." Tatsächlich gibt es Unstimmigkeiten. Eines der beiden mutmaßlichen Opfer, James Safechuck, berichtet, er sei unter anderem in einer Zugstation auf Jacksons Anwesen "Neverland" missbraucht worden. Diese Zugstation wurde aber erst 1993 erbaut - der Missbrauch an ihm endete laut Safechucks Schilderungen 1992. Mit der Kritik konfrontiert, sagte Regisseur Dan Reed, der Missbrauch an Safechuck habe sich doch länger hingezogen.
Mutmaßliche Opfer wirken glaubwürdig
ProSieben zeigte die Doku trotzdem ungekürzt, ergänzte sie aber um ein "Spezial", in dem der Sender auch kurz auf die Kritik eingeht. Trotz der Unstimmigkeiten: In der Doku selbst wirken die beiden mutmaßlichen Opfer glaubwürdig - so glaubwürdig, dass sich einzelne Radiosender in den USA und in Kanada bereits dazu entschlossen haben, keine Musik mehr von Michael Jackson zu spielen.
Sonja Zekri, Feuilleton-Chefin der Süddeutschen Zeitung, kritisiert das: "Mit großer Geste tut man so, als könne man sich da auf die richtige Seite schlagen", sagt sie. "Aber jeder kennt diese Lieder, viele Menschen haben sie in ihren Plattenschränken stehen - und dann so zu tun, als könne man die Wirklichkeit davon befreien, halte ich für naiv."
Kein Radio-Boykott in Deutschland
Die Radiosender in Deutschland scheinen Zekris Meinung zu teilen: Bislang hat kein einziger einen Michael-Jackson-Boykott angekündigt. Zapp bekommt viele Absagen für Interviews von Radiosendern. Es ist ein Thema, bei dem es nichts zu gewinnen gibt: Einerseits sind die Vorwürfe gegen Jackson extrem schwerwiegend - wohl kein Verbrechen ist gesellschaftlich so geächtet wie sexueller Kindesmissbrauch. Andererseits könnten sich die Sender den Unmut der Jackson-Fans zuziehen - und vieler anderer, die zurecht darauf pochen, dass der Popstar nie verurteilt wurde.
Hendrik Lünenborg, der Programmchef des Hamburger NDR-Senders 90,3, spricht mit uns. Ähnlich wie Zekri plädiert auch er auf die Trennung des Werks vom Künstler. "Wir haben uns dazu entschieden, die Musik weiter zu spielen, weil sie in der Musikgeschichte eine so besondere Rolle spielt", sagt Lünenborg. "Das sehen Sie auch daran, dass Michael Jackson so viele andere Künstler inspiriert hat, die wir auch spielen. Man entkommt dem Einfluss von Michael Jackson in der Musik nicht."
Radiosender tragen Verantwortung
Julian Dörr ist freier Journalist, er schreibt viel über Musik und Popkultur. Auf der Online-Seite des SZ-Magazins hat er einen Artikel veröffentlicht: "Warum ich Michael Jackson nicht mehr höre". Im Interview mit ZAPP sagt er: "Ich habe keine Lust, Zeit mit Künstlern wie Michael Jackson zu verbringen. Menschen, bei denen viel dafür spricht, dass sie schlimme Dinge getan haben."
Das sei eine persönliche Entscheidung, betont Dörr. Aber: "Ich finde, dass auch Radiosender Verantwortung beziehen müssen in dieser Situation. Und sich dann auch denken: Vielleicht sollten wir Michael Jackson aus dem Programm nehmen."
Trennung von Künstler und Werk
Dass manche Menschen bei Michael Jackson ein Unbehagen spüren, findet Sonja Zekri von der Süddeutschen Zeitung nachvollziehbar. Es geht ihr mit der Musik des Antisemiten Richard Wagner ähnlich - sie hört ihn trotzdem. "Ich glaube, dass jeder Mensch für sich selber als mündiger Kunstbetrachter entscheiden darf und entscheiden muss, wie er damit umgeht", sagt sie. Wenn etwa Radiosender ihren Hörern diese Entscheidung abnehmen würden - das würde sie als entmündigend empfinden. "In Europa ist traditionell eher so, dass man zwischen Künstler und Werk trennt", sagt Zekri. Das sei in den USA anders. Vielleicht ist auch das einer der Gründe, weshalb die Debatte um Michael Jackson in den USA so viel emotionaler geführt wird als in Deutschland.