Die konstruierte Debatte um Cancel Culture
So schnell entsteht eine von der Realität losgelöste Debatte. Dafür braucht es nur ein paar Dramatisierungen, Übertreibungen - und ein Schreckensbild: Letzteres zeigt in diesem Fall Linksradikale, die offenbar einen Auftritt der umstrittenen Kabarettistin mit Gewalt verhindern wollen. Es passt ja auch schon schön, schließlich steht die österreichische Kunstfigur Lisa Eckhart seit Längerem in der Kritik. Ihr wird vorgeworfen, bei einem Auftritt der WDR-Mitternachtsspitzen rassistische und antisemitische Klischees zu bedienen.
Festivalleiter spricht von "Weimarer Verhältnissen"
Die Österreicherin sollte eigentlich Mitte September beim Debütantensalon des Harbour Front Literaturfestivals in Hamburg auftreten. Doch der Nochtspeicher, der Veranstaltungsort, in dem die Lesung stattfinden sollte, hatte Sicherheitsbedenken und teilte dem Veranstalter per Mail mit, "Sach- und Personenschäden" seien "wahrscheinlich", woraufhin Eckhart ausgeladen wurde. Der Festivalleiter Nikolaus Hansen sprach bei Deutschlandfunk Kultur von Drohungen, die Veranstaltung mit Gewalt zu sprengen. "Wenn man Hamburg und den Schwarzen Block in Hamburg kennt, von dem diese Drohungen wohl ausgegangen sind, muss man die ernst nehmen", sagte er. Gegenüber der FAZ fügte er hinzu, das alles erinnere ihn an Weimarer Verhältnisse - und weiter: "Wir weichen der Gewalt." Dramatisch!
"Schwarzer Block schlägt schwarzen Humor"
Noch dramatischer die Kommentare: Der Tagesspiegel sieht in dem Fall ein Beispiel für Wächter, die über das Sagbare entscheiden: "Mit aggressiven Methoden sollen politische Widersacher zum Schweigen gebracht werden." Auch die FAZ ist empört: "Weil der 'Schwarze Block' der Antifa aufmarschieren will", werde Eckhart ausgeladen. "Das ist ein Menetekel." Und beim BR kommentiert Knut Cordsen: "Der berüchtigte Schwarze Block der Hafenstraße schlägt also den schwarzen Humor, und er muss dafür noch nicht mal randalieren. Das heißt, dass der Mob bestimmt, wer auftreten darf und wer nicht, und dass die Feigheit regiert."
Sogar Hamburgs Kultursenator Brosda (SPD) schaltet sich ein: Künstlerische Räume dürften durch Androhung von Gewalt nicht verengt werden. Die AfD muss sich bei solchen markigen Worten nicht mühen, die eingeschlagene Stoßrichtung der Debatte zu befeuern: Linke Zensurwächter seien am Werk.
Es gab keine Drohungen
Allein, die Drohungen hat es gar nicht gegeben. Das schreibt der Nochtspeicher in einer Pressemitteilung auf der Homepage selbst: Es habe lediglich Warnungen aus der Nachbarschaft gegeben, aber eben keine Drohungen, von denen der Festivalleiter mit Bezug auf den Nochtspeicher sprach. Auf ZAPP-Anfrage bestätigt der Nochtspeicher noch einmal, dass es keine Drohungen etwa des Schwarzen Blocks oder anderer gab. So ist das gezeichnete Schreckensbild von gewalttätigen Autonomen nicht mehr als eine überdimensionierte Projektion einer mikroskopischen Darstellung.
Auftritt von Lisa Eckhart findet wohl doch statt
Und der Projektor sind die Medien: Zuerst eine dramatisierende Mail des Veranstaltungsort, darauf aufbauen ein paar dramatisierende Aussagen des Festivalleiters, die dann wiederum einige Kulturjournalisten zum Anlass nehmen, in dramatisierender Weise die Deutung der angeblichen Drohung einfach übernehmen - anstatt einfach mal nachzufragen. Mittlerweile hat das Harbour Front Literaturfestival Lisa Eckhart wieder eingeladen. Nikolaus Hansen bestätigt gegenüber ZAPP, man wolle den Debütantensalon mit Eckhart an einem anderen Ort ausrichten.
Das Feuilleton führt eine Gespensterdebatte
Die ganze Posse sagt letztlich viel aus über die Akteure. Der Nochtspeicher räumt in der Pressemitteilung nicht etwa mit den Unklarheiten auf: Anstatt konkret zu benennen, worin denn die "besorgten Warnungen aus der Nachbarschaft" bestanden, erklärt der Veranstaltungsort allen Ernstes, man begrüße die Debatte, "um der bedrohlich um sich greifenden 'Cancel Culture' Einhalt zu gebieten". Es braucht in völlig überhitzten Debatte gar niemanden, der jemanden canceln möchte, um einmal mehr die Bedrohung durch die Cancel Culture zu belegen. Dirk Pietz hat die Diskussion um die Absage bei Zeit Online deshalb treffend als Gespensterdebatte bezeichnet. Und auch auf Twitter hagelte es Kritik.
Die empört kommentierenden Kultur-Journalisten, die die angeblichen Drohungen nicht hinterfragt haben, müssen sich fragen, warum sie so leichtgläubig auf diese Geschichte angesprungen sind. Offenbar ist das Feindbild der gewaltbereiten, diskursunfähigen Linken mächtig genug.