Niemann: "Reise in den USA nie ohne echtes Besteck"
Stefan Niemann gehört zum ARD-Korrespondentenquartett im Studio Washington. Die Geschichten "Made in USA" werden aber nicht nur in Amerikas Hauptstadt geschrieben, auch wenn häufig der Schwerpunkt der Berichterstattung auf dem politischen Parkett dort liegt. Zwischen Atlantik und Pazifik entdeckt Niemann die Schönheit des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten, aber auch die Schattenseiten. Zuvor war er acht Jahre Korrespondent in China, danach leitete er die Abteilung "Ausland & Aktuelles" beim NDR in Hamburg.
Auf Twitter können Sie Stefan Niemann folgen unter: @SNiemannARD.
Herr Niemann, was hat Sie bis jetzt in Ihrer Korrespondenten-Wahlheimat am meisten beeindruckt?
Stefan Niemann: Die schiere geografische Größe und die damit verbundene einzigartige Vielfalt unseres Berichtsgebiets: ob klimatisch/landschaftlich oder politisch/kulturell. Jede Drehreise fernab von Washington DC erinnert mich daran, noch vorsichtiger umzugehen mit ohnehin fragwürdigen Vereinfachungen wie "die USA sind" oder "die Amerikaner meinen". 50 sehr unterschiedliche Bundesstaaten und eine bunt gemischte Bevölkerung von mehr als 310 Millionen Menschen lassen sich eben nicht einfach so über einen Kamm scheren.
Was hat Sie am meisten schockiert
Niemann: Wie viele Millionen und Abermillionen US-Bürger trotz harter Arbeit in mitunter mehreren Jobs unter die Armutsgrenze rutschen. Und wie viel soziales Elend diese so reiche Nation achselzuckend für normal hält. Welch unheilig symbiotische Allianz dynastieähnliche schwerreiche Eliten, strippenziehende Lobbyisten, entfremdete Politiker und quotenopportunistische, meinungsmachende TV-Networks eingehen. Gemeinsam verkaufen sie hier das Volk für dumm - mitunter buchstäblich (angesichts der grauenvollen Sensationsgier des Fernsehens ist übrigens umso bemerkenswerter, welch brillanten Qualitätsjournalismus Washington Post, New York Times und NPR Hörfunk seit Jahrzehnten verlässlich leisten).
Welche Geschichte wollen Sie unbedingt in Ihrer Zeit als Korrespondent erzählen?
Niemann: Ich träume davon, das mich eines nicht allzu fernen Tages der betagte Henry Kissinger anruft und nach New York City einlädt. Wir schließen uns für eine Woche bei ihm zuhause ein, weil der ehemalige US-Außenminister/Sicherheitsberater vor unserer Kamera eine schonungslose Lebensbeichte ablegen will. Und ich enthülle dann exklusiv, welcher Anteil höher ist: begnadeter Staatsmann oder gnadenloser Schurke.
Was ist die größte Herausforderung für die Zusammenarbeit mit den Redaktionen in Deutschland?
Niemann: Zunächst die lästige Zeitverschiebung (die Hauptausgabe der Tagesschau um 20 Uhr deutscher Zeit heißt für uns in Washington 14 Uhr). Aber ich merke gerade: Darüber habe ich auch schon in meiner China-Zeit gejammert (Hauptausgabe der Tagesschau bedeutet um 2 Uhr nachts in Peking). Dann also ein anderes Phänomen. Ich gewinne zunehmend den Eindruck, dass so manche Heimatredaktion aus zwei Lagern besteht: den nahezu naiv-begeisterten USA-Fans und den beinahe ideologisch getriebenen Amerika-Hassern. Mir fehlt mitunter die gelassene Mitte, die vorbehaltlose Neugier auf Nachrichten aus diesem Land.
Was haben Sie bei jeder Drehreise dabei?
Niemann: Seit meinem ersten Dreh in der kalifornischen Provinz reise ich nie ohne echtes Besteck, Kaffeebecher und Porzellanteller. Ich weigere mich schlicht, von Styroportellern zu essen, aus Styroportassen zu trinken und mit Plastikmessern herumzusäbeln. Das ist hier aber inzwischen vielerorts Standard. Ich höre nicht auf, mich darüber zu wundern, dass selbst Amerikas vielreisende Geschäftsleute sich mit der Ausstattung eines schlechten Kindergeburtstages abspeisen lassen - damit die Hotels Personal und Kosten sparen.
Mussten Sie aus Höflichkeit bei einer Drehreise schon mal Merkwürdiges essen oder trinken?
Niemann: Nicht so Gruseliges wie als China-Korrespondent, aber Bananen-Bier mit bedenklich hohem Fruchtanteil und Kaugummi mit Schinken-Geschmack waren auch nicht ohne.
Welcher ist Ihr Lieblingsplatz in Washington?
Niemann: Das unterschätzte Jefferson-Memorial. An milden Tagen im Frühjahr oder Herbst ein herrlicher Ort, um die Seele baumeln zu lassen.
Wie sieht für Sie ein perfekter Sonntag aus?
Niemann: Wenn ich Wochenendbereitschaft habe: ein spannendes Thema für Tagesschau oder Tagesthemen und danach Entspannung mit meiner Familie - ob am nahen Fluss oder auf Flohmärkten am Capitol. Wenn ich frei habe: spätes Frühstück mit Familie und Freunden, Sport unter freiem Himmel, "undienstliche" Lektüre, Kino, Ausflüge ins vertraute Grüne oder ins verheißungsvolle Blaue.
Was vermissen Sie am meisten aus Ihrer Heimat?
Niemann: Ole, meinen erwachsenen Sohn.