Dorothea Schlözer: Dank einer Wette zum Doktortitel
Sie war ein Wunderkind, die erste Frau mit einem Philosophie-Doktortitel und Lübecker Bürgermeistergattin. Außerdem eine Bekannte von Goethe und Napoleon: Dorothea Schlözer.
Von Janina Harder
Zweifelsohne gehörte sie zu den klügsten und faszinierendsten Frauen in Lübeck - und wahrscheinlich in ganz Europa. Und trotzdem kennen so wenige diese außergewöhnliche Frau, die vor 250 Jahren zur Welt kam. Sie führte Anfang des 19. Jahrhunderts einen berühmten Salon in Lübeck. Wissenschaftler Wilhelm von Humboldt und Dichter Johann Heinrich Voss gaben sich hier die Klinke in die Hand.
Außergewöhnliche Bildung dank außergewöhnlicher Wette
Dorothea Schlözers Vater ist ein berühmter Politik- und Geschichtsprofessor, der sich auch für Pädagogik interessiert. Die Ansichten des damaligen Pädagogikprofessors Basedow gefallen ihm nicht besonders. Deshalb fordert Schlözer ihn zu einem besonderen Duell heraus: "Wie der Zufall es will, sollten sie beide gleichzeitig Vater werden", erzählt die Travemünder Buchautorin Anne Bentkamp, die über Dorothea Schlözers Leben einen Roman geschrieben hat. "Und da haben die beiden eine Wette abgeschlossen, dass derjenige gewinnt, der mit seinen pädagogischen Maßnahmen dem Sohn die bessere Bildung verschaffen konnte." Doch August Ludwig Schlözer bekommt eine Tochter. Er besteht darauf, dass die Wette trotzdem durchgezogen wird und will mit seinem Experiment beweisen, dass auch Mädchen "bildbar" sind.
Mit 16 Jahren 10 Sprachen auf Hochschulniveau
Mit drei Jahren lernt Dorothea lesen und schreiben. Mit fünf Jahren wird sie von Professorenkollegen des Vaters in Mathematik unterrichtet, kann mit sieben den Satz des Pythagoras. Sie lernt Mineralogie, Naturwissenschaften und Philosophie. Zehn Sprachen wird sie auf Hochschulniveau beherrschen. Mit Plattdeutsch fängt sie an, weil das eine gute Grundlage bietet, um andere Sprachen zu erlernen, sagt der Vater.
Dorothea ist ein Wunderkind. Gleichzeitig ist genau diese Tatsache für viele ein Skandal. "Viele haben dann eben in der Zeit schon gesagt: Das wird ein böses Ende nehmen", weiß Buchautorin Anne Bentkamp. So habe Schiller zum Beispiel darüber geschrieben: "Die Farce, die August Schlözer mit seiner Tochter anstellt." Es sei für die damalige Gesellschaft eigentlich unmöglich gewesen, dass er seine Tochter mit Wissen vollstopfte, welches sie als Frau angeblich gar nicht gebrauchen konnte.
Genderforschung: Biologie bestimmt Können
Britta Thege ist wissenschaftliche Geschäftsführerin des Instituts für Interdisziplinäre Genderforschung und Diversity an der Fachhochschule Kiel und beschäftigt sich mit den Gründen für das damalige gesellschaftliche Rollenverständnis. "Das hängt zusammen mit der Vorstellung der Geschlechtercharaktere von Männern und Frauen, wo die Biologie bestimmt, was ich sein darf", sagt sie. So schrieb man den Männern das Öffentliche, Rationale zu, den Frauen hingegen das Emotionale, Familiäre, Häusliche.
"Weiber sind Menschen wie die Männer"
Aber Dorothea ist da anderer Ansicht. Ist sie doch der lebendige Gegenbeweis zu dieser gesellschaftlichen Überzeugung. An eine Freundin schreibt sie als Jugendliche:
"Ich will dir vieles beichten, was wir 15-jährigen Mädchen sonst in der Welt nie so früh erfahren, und auch in keinem Buche steht. Was ich aber schon seit mehreren Jahren unter vier Augen von guter Hand habe: Weiber sind nicht in der Welt, bloß um die Männer zu amüsieren. Weiber sind Menschen wie Männer." (Dorothea Schlözer)
Von eigener Promotionsfeier ausgeschlossen
Mit 17 Jahren erhält sie dann ihren Doktortitel. Vater Schlözer hat seine Wette endgültig gewonnen. Am Festakt darf Dorothea Schlözer selbst, als unverheiratete Frau, nicht teilnehmen. Universitäten sind zu jener Zeit nur den Männern vorbehalten. "Es kam soweit, dass Dorothea in der Bibliothek platziert wurde, die ein Verbindungsfenster zur Universitätskirche hatte, damit Dorothea hinter einem Vorhang versteckt die Lobreden mithören konnte", erzählt Anne Bentkamp. "Letztendlich war es dann ihr Vater, der die Urkunde und den Doktorhut entgegengenommen hat - nicht sie." Jetzt trifft Dorothea Schlözer Geistesgrößen in ganz Europa, ist überall gern gesehener Gast. Aber eine Forscher- oder Professorenkarriere startet sie nicht - die ist schlicht nicht vorgesehen für eine Frau der damaligen Zeit.
Spuren von Dorothea im heutigen Lübeck
Heute ist Dorothea Schlözer Vorbild. Eine Berufsschule für Ernährung, Gesundheit und Sozialwesen in Lübeck trägt ihren Namen. Im Klassik Altstadt Hotel in Lübeck gibt es ein Dorothea-Schlözer-Zimmer. Wichtige Eckpunkte ihres Lebens sind hier allgegenwärtig. Statt einen Beruf zu ergreifen, heiratet sie 1792 im Alter von 22 Jahren den reichsten Kaufmann Lübecks und späteren Bürgermeister, Mattheus Rodde. Sie haben drei Kinder. Dorothea führt ihren Salon, tauscht sich intellektuell aus. Nachdem im Jahr 1806 die Franzosen in die Hansestadt einfallen, geht die Familie Rodde-Schlözer bankrott, verliert alle Besitztümer und verarmt.
Eine frühe Vorläuferin der Emanzipation
"Sie wird ja oft als Vorläuferin der Emanzipation genommen und präsentiert - aber sie ist doch eine Vor-Vorläuferin", resümiert Buchautorin Anne Bentkamp. "Sie hat gezeigt, dass eine Frau in der Lage ist, jedwede Bildung zu erreichen, wenn man sie nur lässt." Aber sie sei noch nicht in der Lage gewesen, selbstständig und selbstbewusst etwas Neues in dieser Welt zu bewegen.
Das bestätigt auch Genderforscherin Britta Thege: "Bei Dorothea Schlözer war das Problem, dass diese Bildung, dieses Wissen, diese Schlauheit, diese Klugheit, die sie hatte, nicht relevant war für eine Frau", sagt sie. Der Grund: "Schuld ist das Hierarchieverhältnis, das sich über all die Jahrtausende zwischen Mann und Frau herausgebildet hat", sagt sie. "Es ist eine Hierarchie aufgemacht worden, völlig ohne Grund - es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund dafür, außer einer Ideologie und einer Idee."
Dorothea Schlözer stirbt 1825, mit 55 Jahren, an einer Lungenentzündung im französischen Avignon. Sie war eine frühe Vorreiterin für die Gleichstellung von Mann und Frau, die einen starken Anfang gemacht hat.