STRG_F: Zur Debatte um die Vernehmungsvideos von Stephan Ernst
Durften wir das? War es richtig, Teile der Vernehmungsvideos des Beschuldigten Stephan Ernst zu veröffentlichen?
In Medien und Öffentlichkeit wird der STRG_F-Film, der sich mit dem Gerichtsprozess rund um den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke beschäftigt, kontrovers diskutiert (STRG_F gehört zur Redaktion von Panorama - Die Reporter). Erstmals wurden auch einer breiten Öffentlichkeit Teile der Aufnahmen aus den Polizeivernehmungen vom Angeklagten Stephan Ernst gezeigt und eingeordnet. Sie waren zuvor im Gerichtssaal gezeigt worden - öffentlich. Prozessbeobachter*innen konnten die kompletten Videos vor Ort einsehen und darüber berichten. Aber eine direkte Ausstrahlung gab es bis dahin noch nicht.
Wir sind uns bewusst: Die Veröffentlichung der Vernehmungsvideos hat eine neue Qualität, da sie der Öffentlichkeit originäre Aufnahmen zeigt. Sie steht aber in einer Tradition öffentlicher Gerichtsverfahren, in denen eine Stellvertreteröffentlichkeit diese Einblicke erhält und Journalist*innen die Ereignisse schildern und einordnen. Wir denken, dass in diesem Fall das öffentliche Interesse so groß ist, dass für die Menschen ein eigener und direkter Eindruck wichtig sein kann.
Die Debatte darüber ist aus unserer Sicht notwendig. Denn unsere Veröffentlichung ist ein besonderer Fall in einem Prozess von zeitgeschichtlicher Bedeutung - es handelt sich um den wohl ersten rechtsextremistisch motivierten Mord an einem deutschen Politiker. Unsere Entscheidung für die Publikation, über die wir vorab sehr sorgfältig diskutiert haben, sagt nichts über zukünftige Verfahren aus. Wir denken, dass die Auszüge und Einordnungen in diesem Fall wichtig und erhellend waren. Wir würden - allerdings nur in diesem konkreten Fall - wieder so entscheiden.
Gerne möchten wir im Einzelnen auf verschiedene Diskussionspunkte eingehen.
Ist die Veröffentlichung juristisch erlaubt?
Relevant dafür ist § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB). Darin heißt es, es macht sich strafbar wer "die Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist."
Die Vernehmungsvideos wurden bereits in der öffentlichen Verhandlung gezeigt. Deshalb sind wir gemeinsam mit unserem Justitiariat zu dem Schluss gekommen, dass wir sie veröffentlichen können. Wir haben dem Gericht nicht vorgegriffen. Andere Medien, wie etwa die Süddeutsche Zeitung, haben Auszüge aus den Geständnissen vorab paraphrasiert.
Der Anwalt Gerhard Strate hat in einem Meinungsartikel für das Online-Magazin Cicero argumentiert, wir hätten gegen eine Verbotsnorm verstoßen. Er schreibt, dass die Herausgabe der Aufzeichnungen der Einwilligung des Zeugen oder Beschuldigten bedürfe (§ 58a Abs. 2 Satz 4 StPO, Verbot der Weitergabe an Dritte). Es sei eine klare öffentlich-rechtliche Verbotsnorm, die selbstverständlich die öffentliche Übertragung im Fernsehen und im Internet einschließe.
Diese "selbstverständliche" Schlussfolgerung gibt der Paragraph unserer Einschätzung nach allerdings nicht her. Das Verbot bezieht sich eindeutig auf Prozessbeteiligte wie Anwälte oder Staatsanwaltschaft. Diese machen sich möglicherweise strafbar, wenn sie z.B. Akten an Journalist*innen herausgeben - wie es immer wieder bei Prozessen geschieht.
Verstößt die Veröffentlichung gegen Persönlichkeitsrechte?
Stephan Ernst hat zumindest eine Tatbeteiligung in allen bisherigen Geständnissen zugegeben. Zuletzt hat er vor Gericht den Mord an Walter Lübcke erneut gestanden und bereut. Bei der Tat handelt es sich um den wohl ersten rechtsextremistisch motivierten Mord an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik. Somit besteht ein herausragendes öffentliches Interesse an Tat und Person. Stephan Ernst wird in beinahe allen großen Leitmedien offen gezeigt und sein Name voll genannt. Er ist "public figure", Person der Zeitgeschichte.
Der Medienanwalt Prof. Christian Schertz meint dazu in einem Interview mit dem RBB-Medienmagazin:
"Hier ist es nunmal so, es ist der erste Mord an einem Politiker durch einen Nazi in der deutschen Nachkriegsgeschichte, das heißt der Fall hat ausnahmsweise eine ganz besondere historische Bedeutung, die meines in diesem ganz konkreten Fall, zumal das Geständnis ja später widerrufen wurde, die Ausstrahlung des Materials erlaubt. Aber es muss eine Ausnahmefall bleiben."
Und weiter:
"Der NDR durfte das. Und zwar ausnahmsweise, weil eben hier Aussage des Täters (…) von historischer Qualität ist."
Werden durch die Veröffentlichung Zeug*innen beeinflusst?
Die Gerichtsreporterin Heike Borufka vom Hessischen Rundfunk befürchtet, dass sich Zeug*innen das Video jetzt vorher anschauen können, und "beeinflusst werden".
Ähnlich äußert sich Annette Ramelsberger bei ZAPP:
Wichtig ist, dass Zeug*innen grundsätzlich die Pflicht haben, sich von äußerlichen Einflüssen fern zu halten. Dies gilt für alle Publikationen. Ganz grundsätzlich ist ein Video nicht anders gestellt als Verdachtsberichterstattung in der Zeitung. Printmedien haben sehr umfangreich über den Fall berichtet. Hier einige Beispiele:
Am 22.06.2019 erschien der SPIEGEL mit dem Titel "Brauner Terror", auf dem Stephan Ernst mit offenem Gesicht und ikonischer Darstellung abgebildet ist - bereits eine Woche nach seiner Festnahme und drei Tage vor seinem ersten Geständnis. In diversen Artikeln wurde bereits vor Prozessbeginn ausführlich aus Ermittlungsakten berichtet oder hier in der Tagesschau. Auch aus den Vernehmungsvideos wurde bereits lange vor dem STRG_F-Video ausführlich zitiert, z.B. in der ZEIT.
Wird durch die Veröffentlichung solcher Videos nicht alles noch emotionaler?
Annette Ramelsberger erklärt in einem Interview mit ZAPP:
"Ich glaube, man macht damit eine Tür auf auf einen ziemlich dunklen Weg. Auf dem Weg, dass alles noch emotionaler wird, dass diese Emotionen in den Gerichtssaal schwappen und dann wirklich den Prozess erschweren."
Gerichtsreportagen sind auch in Print-Publikationen schon lange geprägt durch emotionale Schilderungen, wie dieses Beispiel von Annette Ramelsberger selbst zeigt:
"Die Witwe lässt den Blick nicht von dem Mann, der angeklagt ist, ihren Mann erschossen zu haben, auf ihrer eigenen Terrasse. Sie fixiert ihn, während das Gericht eintritt, während die Verteidiger ihre Anträge stellen. Sie schaut. Und dann senkt Stephan Ernst den Blick."
Auch über die Vernehmungsvideos wurde bereits viel geschrieben. Die Print-Autor*innen haben oft versucht, die Emotionalität einzufangen. Und es wurde auch suggeriert, dass die erste Vernehmung glaubhafter ist.
Bewertungen haben wir in unserem Video nicht vorgenommen. Und dennoch: Ja, Bilder sagen oft mehr als tausende Worte. Die Frage ist aber, ob sie nicht manchmal auch geeignet sind, schriftliche Beschreibungen zu ergänzen, so dass sich Zuschauer*innen selbst ein Bild machen können. In Texten über das Verfahren fließen Wertungen der Autor*innen ein, die Videos sprechen viel stärker für sich selbst, was auch auf Twitter diskutiert wird (@fotobiene):
"Je nach RezipientIn - auch bei den GerichtsreporterInnen - driftete die Beschreibung zwischen "echter Reue" (so angeblich auch Fam. Lübcke lt. @HeikeBorufka, gespielter Reue bis hin zu Selbstmitleid oder gar Selbstinszinierung.Insoweit könnte man dies auch als ein Dokument verstehen, das gerade (!) juristisch ungeschulten Beobachtern klar machen könnte (!), wie schwierig es für ein Gericht ist, dies schlußendlich mit Hilfe anderer Indizien zu bewerten. Ich denke, dies ist auch in der Einordnung innerhalb des Beitrags durch die Autoren zu sehen."
Geben wir dem mutmaßlich rechtsradikalen Mörder von Walter Lübcke eine Bühne für seine Botschaften?
Dieser Fall ist anders als z.B. die Taten von Christchurch oder Halle, bei denen rechtsextreme Täter die Videos ihrer Anschläge ins Netz gestellt haben. Es handelt sich auch nicht um Propagandavideos. Diese Videos sind Aufzeichnungen polizeilicher Vernehmungen, in denen Stephan Ernst sich nicht an eine Öffentlichkeit wendet. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass er antizipieren konnte, dass diese Videos einmal publiziert werden. Die Debatte über dieses Video entsteht ja gerade deswegen, weil eine Veröffentlichung solchen Materials wohl zum ersten Mal stattgefunden hat. Wie sollte Ernst ahnen, dass das in genau seinem Fall erstmals geschehen würde? Stephan Ernst hat seine Tat nun vor Gericht erneut gestanden und als "feige" bezeichnet.
"Ergötzen" sich die User*innen im Netz an diesen Aufnahmen?
Der ehemalige BGH-Richter Thomas Fischerist in seinem Spiegel-Blog offenbar der Auffassung, dass die Öffentlichkeit Sensationen will und dass unser Video dem Rechnung trage.
"Es bedient eine abstoßende Geilheit auf fremde Intimität und die Lust an der vorgeblichen Authentizität fremden Leidens, die heute als Billigstform von 'Empathie' durchgeht."
Die Medienethikerin Larissa Krainer formuliert in einem Interview mit der SZ, dass das Video die die Möglichkeit biete, "sich daran zu ergötzen".
Wir denken, dass es wichtig ist, bei Themen herausragenden öffentlichen Interesses Öffentlichkeit herzustellen. Und wir glauben, dass die Zuschauer*innen sich durch unsere Veröffentlichung besser ein eigenes Bild machen können. Dass daran (und nicht an einem "Ergötzen") großes Interesse besteht, belegen Hunderte positiver Reaktionen. Auszüge aus der Community von STRG_F:
"Danke für diese wichtige Recherche und Einordnung, @strg F!"
"Vor 2 Jahren die Kontoauszüge mit den Combat18-Mitgliedsbeiträgen, jetzt die Vernehmungsvideos, Respekt! Den GEZ-Beitrag fürs 3. Quartal hake ich schon mal als 'gerechtfertigt' ab."
"Das hilft uns Außenstehende unter anderem ein wenig, die öffentliche Gerichtsverhandlung besser nachvollziehen zu können."
"Danke, dass ihr euch dazu entschlossen habt, diese Aufnahmen zu veröffentlichen. So erschreckend es einerseits ist, so deutlich zeigt es aber eben auch einige wichtige Dinge auf. Für mich wird hier ganz deutlich, dass es eben kein kranker Einzeltäter ist, sondern dass mehrere eng vernetzte Organisationen direkt oder indirekt verantwortlich sind, ebenso aber ganz klar auch jene, die bestimmte populistische Parolen, Angst und Hass streuen, befeuern oder auch nur 'salonfähig' machen."
Das Magazin Vice, das viel Erfahrung mit einem jungen Publikum und der Veröffentlichung von investigativen Stoffen im Netz hat, urteilt:
"Nino Seidel und Julian Feldmann sind sich ihrer journalistischen Verantwortlichkeit bewusst. Sie haben das mehrstündige Videomaterial gesichtet, sortiert und journalistisch eingeordnet. Sie haben nicht einfach so ein Video ins Internet gestellt. Und nun, da das Video in der Welt ist, bleibt die Frage, was wir daraus lernen können. Und schaut man sich das Video genau an, ist das eine ganze Menge."
Neu ist vermutlich, dass diese Art von Journalismus nicht nur in etablierten Medien und von bekannten Gerichtsreporter*innen gemacht wird, sondern in einem YouTube-Format stattfindet, das sich insbesondere an ein junges Publikum richtet. Auch das finden wir richtig. Deswegen werden wir weiter über diesen Fall berichten. Die Veröffentlichung sagt aber nichts Generelles darüber aus, ob man Vernehmungsvideos zeigen soll. Im Gegenteil. In den allermeisten Fällen ist es aus unserer Sicht nicht geboten. Jeder Fall muss streng abgewogen und geprüft werden.