Untergetauchte Linke: Auslieferung nach Ungarn?

Stand: 21.05.2024 19:00 Uhr

Seit mehr als einem Jahr verstecken sich neun Deutsche, weil sie in Ungarn einen unfairen Prozess erwarten. Panorama 3 konnte mit zwei von ihnen sprechen.

von Philipp Hennig

Das letzte Foto, das Birgit und Hermann W. aus Hamburg von ihrer Tochter Sara (Namen geändert) gemacht haben, zeigt sie gemeinsam mit ihrem Vater. Aufgenommen wurde es an Weihnachten 2022. Kurz danach ist Sara weg - bis heute. Denn gegen sie wird in Ungarn ermittelt. Ihr werden schwere Körperverletzung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Ob sie sich wirklich strafbar gemacht hat, ist bis heute nicht geklärt.

Die Ungewissheit, wie es jetzt weitergeht, ist für ihre Eltern schwer zu ertragen. "Sie ist rausgerissen aus allem. Sie hat kein Zuhause mehr. Sie ist einfach rausgerissen aus dem Leben und die Angst ist groß, gibt es einen Weg zurück? Also wie kann es einen Weg zurückgeben?", fragt ihre Mutter im Interview mit Panorama 3.

Vorwürfe aus Budapest

Neonazis beim "Tag der Ehre" in Budapest in NS-Uniformen. © picture alliance / JOKER Foto: Martin Fejer/ est&ost
Offene NS-Verherrlichung: Teilnehmer des "Tag der Ehre" in NS-Uniformen.

Anfang letzten Jahres reist Sara mit Freunden nach Budapest, um sich den antifaschistischen Protesten gegen den "Tag der Ehre" anzuschließen. Unter diesem Motto findet in Budapest alljährlich ein Aufmarsch von Neonazis statt, bei dem ganz offen die deutsche Wehrmacht und die Waffen-SS verherrlicht werden. In jedem Jahr gibt es auch Proteste gegen den rechtsradikalen Aufmarsch. 2023 bleiben die nicht friedlich - mehrere Neonazis werden im Umfeld des Aufmarsches von Gruppen Vermummter verprügelt und zum Teil schwer verletzt. Zumindest von einem dieser Angriffe existiert eine Aufnahme aus einer Überwachungskamera. Wer die Täter auf dem Video sind, ist nicht zu erkennen.

Kurz darauf verhaftet und kontrolliert die Polizei in Budapest mehrere Verdächtige, darunter auch einige Deutsche. Auch Sara wird kontrolliert, darf aber wieder gehen. Trotzdem bleiben sie und weitere Personen im Visier der Behörden. Öffentlich wird nun nach den Verdächtigen gefahndet. Warum genau, das wissen zum Teil nicht einmal deren Anwälte.

Zu den Tatverdächtigen gehören 13 Deutsche. Einer wurde in Ungarn bereits zu drei Jahren Haft verurteilt - nicht wegen Körperverletzung, sondern wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation. Eine weitere Verdächtige steht aktuell vor Gericht. Zwei weitere wurden in Deutschland verhaftet und warten auf den Beschluss über ihre Auslieferung nach Ungarn. Die anderen neun - darunter Sara - verstecken sich, um ihrer Festnahme zu entgehen. Nicht nur in Ungarn wird jetzt ermittelt, auch in Deutschland führt die Bundesanwaltschaft ein Verfahren gegen die Gesuchten.

Ungarn: Kein Rechtsstaat

Zwei untergetauchte Linke sprechen in einem Videotelefonat mit Panorama 3 über ihre mögliche Auslieferung nach Ungarn. © NDR
Wenn sie nicht nach Ungarn ausgeliefert werden, "wären viele von uns bereit sich zu stellen", sagen zwei der Untergetauchten im Panorama 3-Interview.

Panorama 3 ist es gelungen, mit zwei der Untergetauchten Kontakt aufzunehmen. In einem exklusiven Interview wollen sie sich zu den ihnen vorgeworfenen Taten nicht äußern, aber sie erzählen, warum sie sich verstecken: "Wenn wir uns jetzt stellen, drohen uns da wirklich bis zu 24 Jahre Haft. Das ist länger als die meisten von uns alt sind. Dazu die schlechten Haftbedingungen, die wirklich nur dazu da sind, Leute einzuschüchtern, um Leute psychisch zu brechen", erzählt eine der Untergetauchten Panorama 3. Auch die mediale Vorverurteilung in Ungarn spreche dagegen, sich einem Prozess in dem EU-Land zu stellen.

Seit Victor Orbán 2010 zum umgarischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat er das Justizsystem immer mehr unter seine Kontrolle gebracht. Eine unabhängige Justiz mit Rechtsstaatsprinzip scheint es in dem Land nicht mehr zu geben. Daniel Freund, Europaabgeordnete der Grünen, beschäftigt sich seit Jahren mit Ungarn. "Die Justiz in Ungarn ist komplett politisch kontrolliert. Orbán hat einen Großteil der Richterinnen und Richter, auch der Staatsanwälte benannt, nach politischen Kriterien. Ich befürchte einfach ein hochpolitisiertes, kein faires Verfahren. Hohe Vertreter der ungarischen Regierung haben sich zu diesen Fällen ja schon geäußert, haben durchblicken lassen, dass sie da harte Strafen wollen", sagt er Panorama 3.

Daniel Freund © picture alliance / dts-Agentur
"Kein faires Verfahren" erwartet der EU-Abgeordnete Daniel Freund für die Gesuchten in Ungarn.

Hinzu kommt, dass auch die Haftanstalten im Land offenbar nicht den europäischen Mindestanforderungen an Gefängnisse entsprechen, berichtet Zsófia Moldova von der ungarischen Menschenrechtsorganisation Helsinki Komitee. Sie beobachtet das Gefängnissystem im Land seit 1989: "Die Temperatur kann im Sommer extrem heiß und im Winter extrem kalt sein. Zu erwähnen ist auch die schlechte Ernährung. Das tägliche Budget für die Verpflegung der Häftlinge beträgt etwa 2,80 € pro Tag. In vielen Einrichtungen gibt es kein warmes Wasser für die Körperpflege." Ungarn weist diese Vorwürfe auf Anfrage von Panorama 3 zurück.

Prozess könnte in Deutschland stattfinden

Die Bundesanwaltschaft hätte allerdings noch eine Möglichkeit: sie könnte entscheiden, dass der Prozess gegen die Verdächtigen nicht in Ungarn, sondern in Deutschland stattfindet. Bisher hat sie dies nicht getan. Warum, ist bisher unklar. Eine schriftliche Anfrage von Panorama 3 lässt sie unbeantwortet.

Ein Teil der Untergetauchten wäre bereit, sich einem Prozess zu stellen. "Wenn uns zugesichert wird, dass es keine Auslieferung nach Ungarn gibt, dann wären viele von uns bereit sich zu stellen", erklären zwei von ihnen. Dann könnte in Deutschland - ganz rechtsstaatlich - geklärt werden, ob sie die Straftaten begangen haben.

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 21.05.2024 | 21:15 Uhr

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