Wie Flüchtlinge bei uns in den Alltag finden
Endlich liegen die Strapazen der Flucht hinter mir, dachte Rahmatollah Kamron aus Afghanistan, als er im niedersächsischen Bramsche ankam. Er sah das alte Kasernengelände mit seinen zweistöckigen Gebäuden und dachte: wenigstens warm. Dann guckte er auf seine Registrierungskarte der Flüchtlingsunterkunft, und darauf stand "Zelt".
Oktober 2015: Die Kälte bricht früh herein in diesem Jahr. Tagelang regnet es, durch Löcher im Zeltdach tropft Wasser, nachts kriecht der erste Frost durch die dünnen Wände. Mit Hochdruck wird versucht, die Unterkünfte mit Öl-Heizungen auszustatten. In Zelt drei bis Zelt acht gibt es bereits welche. Rahmatollah Kamron schläft aber in Zelt Nummer zwölf. Einige seiner Mitbewohner sind krank geworden, leiden unter Husten und Fieber.
Wenn ich bleiben will, muss ich was machen
Heute sind diese kalten Nächte für den Afghanen weit weg. Stolz geht er durch die Werkshalle der Firma für Schleifmittel in Hannover, bei der er seit fast einem Jahr arbeitet. "Ich wusste, wenn ich in Deutschland bleiben will, muss ich was machen", sagt er. Er suchte sich deshalb früh einen Praktikumsplatz. Das klappte so gut, dass Rahmatollah eine Ausbildung zum Fachlageristen beginnen konnte. Auch sein Ausbilder Ayhan Yildirim ist zufrieden: "Er hat sich sehr gut integriert, es gibt keinen Unterschied zu anderen Auszubildenden", sagt er.
Zugute kommt Rahmatollah, dass er schon vor seiner Flucht ein bisschen Deutsch konnte. In Afghanistan hat er als Übersetzer für die Bundeswehr gearbeitet. Dann wurde er von den Taliban bedroht und floh. Seit einem halben Jahr weiß er, dass seine Bemühungen nicht umsonst waren. Er darf vorerst in Deutschland bleiben und seine Ausbildung machen. "Das ist das schönste Gefühl für mich, sicher zu sein und eine Ausbildung zu haben. Ich bin sehr glücklich", sagt er.
Anderswo gibt es noch Probleme
So gut ergeht es nicht jedem Flüchtling. Khaled Rajab schaut aus dem Fenster seines neuen Wohnzimmers in Parchim. Es ist Januar. Es schneit. Eigentlich ist er zufrieden, seine Familie hat inzwischen eine eigene Wohnung bekommen, sogar mit einem Kinderzimmer. Vor einem Jahr wurde ihr zweites Kind, eine Tochter, geboren. "Sie ist mein Engel", sagt Khaled Rajab. Doch einen Job hat er leider noch nicht. "Den ganzen Tag sitze ich rum, spiele mit den Kindern oder langweile mich", sagt er. Das sei er nicht gewohnt. Er wolle arbeiten, am liebsten als Maler, er sei handwerklich begabt, das mache ihm Spaß. Um sich nicht immer zu langweilen, arbeitet Khaled Rajab fast täglich in der nahegelegenen Moschee. Hier hat er den Gebetsraum komplett neu gestrichen und mit kunstvollen Bordüren verziert, er hat die Heizung repariert und die Waschräume verputzt und gekachelt. Ohne diese Arbeit würde er verrückt werden, sagt er.
Doch das ist nicht sein einziges Problem. Ständig bekommt er Post von Behörden, er soll Fragen zu seinem syrischen Führerschein beantworten, in den Briefen stehen Worte wie "Anhörung", "Arbeitsunfähigkeit", "Attest" - Worte, die Khaled Rajab nicht versteht. Drei Ordner füllen solche Briefe bereits - gut sortiert in Fächern und mit bunten Post-its markiert. Um sich bessere Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu verschaffen, übt Khaled nun die Theorieaufgaben für den deutschen Führerschein-Test. Denn mit einem Führerschein und ausreichend Deutschkenntnissen könnte er vielleicht bei einem befreundeten türkischen Unternehmer als Maler anfangen. Sein syrischer Führerschein wird nicht anerkannt.
In Itzehoe fiel auf: Der Junge hat Talent
Einige Hundert Kilometer entfernt sitzt der Schüler Hadi Al Mokdad aus Syrien in einem Klassenzimmer in Itzehoe. Heute geht es um Beschleunigung, Lehrer Martin Baudach lässt ein Gewichtsstück durch eine Lichtschranke fallen, die Gymnasiasten sollen es ihm nachmachen und sich überlegen, wie sie in diesem Versuchsaufbau die Beschleunigung berechnen müssen. Solche Aufgaben erledigt Hadi gern.
Physik fällt ihm leichter als Deutsch oder Geschichte. Frei sprechen oder lange Aufsätze schreiben, das liegt Hadi nicht so. Noch nicht. Denn er hat in eineinhalb Jahren eine beeindruckende Entwicklung gemacht. "Wenn ich überlege, dass er vor eineinhalb Jahren noch gar kein Deutsch konnte und jetzt hat er den Sprung zu uns auf das Gymnasium geschafft und schreibt in seinen Klausuren schon ziemlich gute deutsche Sätze - das finde ich beachtlich", sagt Lehrer Martin Baudach.
Hadis Talent für Naturwissenschaften fiel auf
Zu verdanken hat Hadi diese positive Entwicklung auch seiner früheren Schule, der Klosterhofschule Itzehoe. Vor zwei Jahren standen die geflüchteten Kinder einfach bei Rektor Gerd Freiwald im Sekretariat und wollten beschult werden. Anfangs wurden die Kinder zusätzlich den Lehrern in die Klassen gebracht, bis ausreichend DAZ-Klassen - also Klassen für Deutsch als Zweitsprache - etabliert waren und neue Strukturen geschaffen wurden. Trotz der chaotischen Anfangszeit im Jahr 2015 fiel den Lehrern an der Klosterhofschule auf, dass Hadi ein Talent für Naturwissenschaften hat.
"Irgendwem ist mal aufgefallen, dass er was auf dem Kasten hat", sagt Rektor Gerd Freiwald. Dann organisierten sie für Hadi eine Kooperation mit dem benachbarten Kaiser-Karl-Gymnasium, und schließlich konnte Hadi komplett auf das Gymnasium wechseln. Für seine Zukunft träumt Hadi nun davon, einmal Informatik zu studieren. Dafür muss er zwar noch besser Deutsch lernen, um auch in den geisteswissenschaftlichen Fächern den Anforderungen für das Abitur gerecht zu werden, "aber zutrauen tue ich ihm das", sagt Martin Baudach.
Auch in Parchim hat sich die Stimmung verbessert. Denn Khaled Rajab macht seit ein paar Wochen ein Praktikum als Automechaniker. Wenn er den Deutschtest besteht, kann er dort vielleicht eine Ausbildung machen. Das wäre sein großer Traum.