Trinkende Eltern, koksende Lehrer: Drogenkonsum in der Mittelschicht
Homeoffice, Homeschooling und Kontaktbeschränkungen waren für anfällige Personen ein gefährlicher Mix. Suchtberater sprechen von völlig neuen Patientenkreisen, die während der Corona-Pandemie entstanden sind.
Lars Kühne zum Beispiel war vor Corona Filialleiter in einem Hamburger Café. Seine Frau erwartete ihr erstes Kind. Mit dem Lockdown kam die Kurzarbeit, und der ehemalige Filialleiter verbrachte seine Tage mit Bier auf einer Parkbank. Seiner Frau wollte er nicht die Wahrheit sagen: "Ich wollte keine Schwäche zeigen. Ich habe immer das Geld verdient", erzählt uns Kühne.
Er ist kein Einzelfall. Laut einer Umfrage der Universitäten Mannheim und Nürnberg trinken seit der Pandemie ein Drittel der Befragten wesentlich mehr Alkohol. Gerade Menschen, die schon vorher häufig getrunken haben, fehle nun die Hemmschwelle.
MV: Mehrzahl der Suchtkranken Arbeitnehmer
Mit dem Frühlingsbeginn und dem Ausklingen der aktuellen Corona-Welle treten die Kollateralschäden hervor, die Covid-19 hinterlässt. Während vor der Pandemie überwiegend Arbeitslose die Statistiken der Landesstelle für Suchthilfe in Mecklenburg-Vorpommern füllten, sind die Mehrzahl der Suchtkranken heute Arbeitnehmer. Die soziale Kontrolle habe gefehlt, erzählt die Suchtexpertin Birgit Grämke. "Wenn ich nicht lalle, kriegt in der Videokonferenz keiner mit, wie ich drauf bin."
"Irgendwann fällt dann auch die Hemmschwelle"
Die Reporter von Panorama 3 starten Aufrufe in den sozialen Medien: Wer hat in der Pandemie angefangen Drogen zu nehmen? Es melden sich dutzende Personen. Ein Lehrer aus Niedersachsen klagt über erhöhte Belastungen und habe seit Corona angefangen zu koksen. Ein Lokalpolitiker mit drei Kindern erzählt von Depressionen während der Pandemie, die er mit verschiedenen illegalen Drogen versucht habe zu betäuben.
Marcel* und Thorsten* erzählen, dass sie die Isolation und Langeweile zu Hause nicht ausgehalten hätten. Marcel arbeitet im öffentlichen Dienst, Thorsten ist im Logistikbereich tätig. Thorsten beschreibt, wie er zum Kokskonsum gekommen ist: "Du kannst nicht viel machen, du sitzt zu Hause - und irgendwann fällt dann auch die Hemmschwelle, man probiert mal was aus. Weil man sich einfach dieser Leere, diesem Nichtstun entziehen wollte." Erst verloren beide die Kontrolle über ihre Arbeitszeit, dann über ihren Drogenkonsum.
Mehr Kokainreste im Hamburger Abwasser
Sogar im Abwasser der Klärwerke lässt sich ablesen, dass der Konsum illegaler Drogen in den letzten zwei Jahren zugenommen hat. In Hamburg wurden während der Pandemie 17 Prozent mehr Kokainreste im Abwasser gefunden als zuvor. Gleichzeitig wird es immer leichter, Drogen zu beschaffen. Erst werden die Substanzen mit ein paar Klicks auf sozialen Medien bestellt, dann per Post oder in Großstädten per Koks-Taxi direkt ins Homeoffice geliefert. Auch Dealer berichten von einem neuen Kundenkreis während der Pandemie. Einer behauptet gegenüber Panorama 3, dass sich sein Umsatz sogar verdoppelt habe. Er erzählt: "Es sind Menschen, von denen man nicht denkt, dass sie Drogen nehmen würden." Er berichtet von Vätern und Müttern. Eine Alleinerziehende habe sogar im Rausch ihre Tochter im Kinderwagen vergessen.
Gesellschaftliche Auswirkungen erst in den nächsten Jahren sichtbar
Dabei werden die wahren Auswirkungen der Pandemie auf das Suchtverhalten der Deutschen erst in einigen Jahren sichtbar sein. Suchtexpertin Grämke meint: "Im Suchtbereich wird uns das noch in den nächsten Jahren verfolgen und wird auch dann erst so richtig aufploppen." Denn es dauert, bis sich Abhängige ihre Sucht eingestehen. Dann werden sich auch die Öffnungszeiten bei Suchthilfeeinrichtungen verändern müssen, damit auch Arbeitnehmer die Angebote wahrnehmen können, ohne dass der Chef das mitbekommt.
Lars Kühne aus Hamburg hat es noch nicht geschafft, seiner Sucht zu entkommen. Einen Entzug hat er hinter sich, wurde aber wieder rückfällig. Seine Frau ist mit dem Sohn ausgezogen, er ist allein zurückgeblieben. "Die Konsequenz war: Ich habe meinen Sohn das erste Jahr so gut wie gar nicht gesehen", erzählt er. Heute wünscht er sich nichts mehr, als ein normales Leben zu führen. Ohne Corona. Und vor allem ohne Alkohol.
*Namen von der Redaktion geändert