Sorglose Patienten: Notruf bei Bagatellfällen
Bei einem Notfall wählt man 112. Die Nummer ist in den Köpfen eingebrannt, schon in der Schule wird sie den Kindern beigebracht. Und laut Rettungsdienstgesetz sind Notfälle definiert als: "Verletzte oder Erkrankte, die sich in Lebensgefahr befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn sie nicht unverzüglich medizinische Hilfe erhalten". Doch die echten Notfälle sind inzwischen eine Seltenheit im Rettungsdienst. Oft treffen die Retter am Einsatzort auf Patienten, die bei einem Hausarzt besser aufgehoben wären. Immer häufiger kommt es vor, dass der Rettungswagen zu Fällen gerufen wird, wo bereits seit Wochen Schmerzen vorhanden sind oder ein Mückenstich wehtut.
Patienten schätzen ihre Situation oft falsch ein
Auch beim Deutschen Roten Kreuz in Lüneburg erleben es die Retter immer wieder, dass sie am Einsatzort auf Lappalien treffen. Manche Leute sind einsam, andere mit einer ungewohnten Situation überfordert. Neulich ging es mit Blaulicht zu einem Einsatz wegen Laktose-Intoleranz, erzählen die Rettungskräfte. Die Frau hatte Hunger und außer Müsli mit Milch nichts zu Hause. Bei einem anderen Einsatz hatte sich eine Person zwei Finger mit einem Kabelbinder zusammengeschnürt. Nach einem Schnitt mit der Schere hatten die Retter hier ihre Arbeit getan. Geschichten wie diese gäbe es unzählige: "Ich glaube, manche können nicht einschätzen, wie ernst die Lage wirklich ist und manche können nicht einschätzen, dass es vielleicht doch um eine ganz normale Krankheit wie Erkältung oder Magen Darm Infekt, das es sich um sowas handelt. Irgendwie fehlt da so ein bisschen das Bewusstsein. Aber das steigt immer mehr an", sagt die Rettungsassistentin Judith Rackwitz.
Kennen sie die Telefonnummer 116 117?
Ein Einsatz kostet rund 400 Euro. Diese Kosten übernimmt die Krankenkasse. Egal ob die Fahrt nötig ist oder nicht. Doch wer soll das entscheiden? Die Sanitäter können kein Risiko eingehen. Jeder der will, muss mit, so die Vorgabe. "Das ist halt das Gesundheitssystem hier in Deutschland", erzählt Lars Johannsen, der auch für das DRK in Lüneburg den Rettungswagen fährt. "Wir dürfen den Transport nicht verweigern, jeder Patient hat ein Anrecht auf die Beförderung und dann macht man das. Es gibt natürlich immer wieder Situationen, wo Patienten selber unsicher sind und einfach nur mal einen Rat haben wollen: Sind meine Symptome jetzt wirklich gefährlich? Kann da was passieren? Dann hat man immer noch die Möglichkeit, auf den kassenärztlichen Notdienst zu verweisen, da gibt es ja die Möglichkeit über die 116117, die bundesweite Telefonnummer, auf den kassenärztlichen Notdienst zurückzugreifen, der kommt ja auch ins Haus." Das Problem: Diese Nummer kennt kaum jemand. Und so wird der Rettungsdienst für Bagatellfälle missbraucht.
Der Krankenwagen wird zum Taxi
Es ist ein bundesweiter Trend. Das weiß auch Klaus Peter Hermes. Bei dem Leiter der Notaufnahme im Klinikum Bremen kommen die Bagatellfälle mit dem Rettungswagen an. Auch er behandelt immer häufiger Patienten, die hier einfach fehl am Platz sind. "Es ist seit mehr als zehn Jahren so, dass die Einsätze des Rettungsdienstes parallel zu den Zahlen in den Notaufnahmen explodieren, jedes Jahr mehrere Tausend mehr. Wir hatten einen Patienten, der ist fünfmal die Woche mit dem Krankenwagen hier in die Notaufnahme eingeliefert worden, unklare Ursache. Jedes Mal, wenn wir ihn untersuchen wollten, ist er von der Trage aufgestanden und aus der Notaufnahme verschwunden. Irgendwann haben wir dann mal nachgecheckt und festgestellt, dass er 50 Meter entfernt von der Klinik wohnt und dass er den Krankenwagen wie ein Taxi benutzt hat."
Und kaum jemand, der wegen eines Bagatellfalles den Rettungswagen ruft, denkt an die Menschen, die wirklich in Lebensgefahr schweben. Denn für die steht dann der Rettungswagen nicht zur Verfügung, erzählt Lars Johannsen. Und trotzdem: die Rettungskräfte wissen nie, was sie erwartet, wenn sie gerufen werden. Und so bleibt es eine Gratwanderung für sie. Denn es kann jedes Mal wieder ein wirklicher Notfall sein, bei dem es um Leben und Tod geht.