Situation junger Geflüchteter: "Es ist für mich eine Kindeswohl-Gefährdung"

Stand: 26.08.2024 16:06 Uhr

Minderjährige Geflüchtete, also Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern nach Deutschland kommen, brauchen einen Vormund. Gibt es keine Ehrenamtlichen, übernimmt ein Amtsvormund des Jugendamts - und kümmert sich um Asylantrag, Familiennachzug, Schule und Krankenversorgung. Theoretisch. Denn die Realität sieht derzeit anders aus, wie ein Amtsvormund Panorama 3 berichtet. 

von Nadja Mitzkat und Lea Struckmeier

Im vergangenen Jahr stellten in Deutschland etwas mehr als 15.000 Minderjährige einen Asylantrag. Vier von fünf Kindern und Jugendlichen stammen aus Syrien und Afghanistan. Unabhängig von ihrer Herkunft genießen Kinder und Jugendliche, die sich in Deutschland aufhalten, einen besonderen rechtlichen Schutzstatus. Das regeln unter anderem die UN-Kinderrechtskonvention und das deutsche Sozialgesetzbuch. Der deutsche Staat ist also verpflichtet, sich zu kümmern.  

Arshadkhan steht vor einer Geflüchtetenunterkunft © Screenshot
AUDIO: Hunderte geflüchtete Kinder ohne Betreuung (10 Min)

Häufig übernehmen die zuständigen Jugendämter die Verantwortung. Sie nehmen die Kinder und Jugendlichen in Obhut und sollen ihnen auch einen Vormund zur Seite stellen. Doch deutschlandweit arbeiten viele Amtsvormünder am Limit. Sie betreuen häufig die gesetzlich festgelegte Höchstzahl von 50 Kindern und Jugendlichen und schaffen es vielfach nicht, sich so zu kümmern, wie es vorgeschrieben wäre.  

Das schildert auch eine Mitarbeiterin der Hamburger Sozialbehörde in einem Interview mit Panorama 3. Der Frau, die anonym bleiben möchte, ist es wichtig die "strukturellen Missstände" öffentlich zu machen. Schließlich sei die Behörde seit mehr als anderthalb Jahren im Bilde über die Situation. 

Sie kümmern sich als Vormund um 50 Jugendliche. Wie sieht Ihre alltägliche Arbeit aus? 

Vormund: Normalerweise ist es so, dass wir sie einmal im Monat sehen sollten. Wir sollten eine Beziehung aufbauen. Wir sollten an Lernentwicklungsgesprächen in der Schule teilnehmen. Wir sollten Arzttermine begleiten. Also einfach der Ansprechpartner sein, der auch bis zum 18. Lebensjahr bleibt. Aber aufgrund der aktuellen Situation in Hamburg ist das überhaupt nicht möglich. Wir machen nur noch Krisenarbeit. Wenn dann noch was aufploppen sollte bei den 200 jungen Leuten, die unverteilt sind, mache ich auch da eine Vollmacht fertig oder mal eine Einverständniserklärung. 

Comicgrafik eines jugendlichen Geflüchteten mit einer Jugendamts-Mitarbeiterin. © Screenshot
Amtsvormünder dürfen maximal 50 Jugendliche und Kinder betreuen.

Was bedeutet, dass etwa 200 Minderjährige "unverteilt" sind?

Vormund: Dieses Referat ist gerade so massiv überlastet, dass nicht allen Jugendlichen ein sogenannter Realvormund zugeteilt werden kann. Für sie bedeutet es, dass sie einfach keinen Ansprechpartner haben, wenn es um ihr Asylverfahren geht. Das ist ja das Hauptthema bei den Jugendlichen. Wie kann ich hier einen Aufenthalt sichern und eventuell Familie nachholen? Wir versuchen aufzufangen und zu kompensieren, müssen aber immer mehr von unseren Standards abrücken, um die Jugendlichen, die keinen Realvormund haben, überhaupt noch versorgen zu können.

Laut Gesetz sollten Sie Ihre Mündel einmal im Monat treffen. Wie oft sehen Sie die Jugendlichen, für die Sie zuständig sind? 

Vormund: Drei- bis viermal im Jahr, wenn überhaupt. Ich sage meinen Jugendlichen im Erstgespräch immer: Wenn ihr Anliegen habt, dann meldet euch bitte. Ich werde nicht nachfragen können, weil ich bei 50 Jugendlichen einfach irgendwann den Überblick verliere. 

Fühlen Sie sich gerade noch als Pädagogin? 

Vormund: Gar nicht mehr. Ich verwalte nur noch.  

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Arshadkhan sitzt auf einem Deich. © Screenshot

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Wie schätzen Sie aktuell die Situation für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ein, die in Hamburg ankommen? 

Vormund: Sehr schlecht. Die Jugendlichen hier in Hamburg kommen beim Fachdienst Flüchtlinge an. Dort wird ihr Alter eingeschätzt und dann werden sie entweder direkt im Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) oder in einer sogenannten Clearingstelle untergebracht. Normalerweise soll das Verfahren drei Monate dauern. Aufgrund der massiven Zahlen, die wir haben, und dem nicht vorhandenem Fachpersonal bleiben die Jugendlichen in der Regel bis zu einem Jahr in den Clearingstellen und manche werden auch dort volljährig.

In den Clearingstellen sollen Sozialpädagogen klären, wobei ein Jugendlicher Hilfe braucht, um ihn anschließend einer für ihn passenden Jugendhilfeeinrichtung, zum Beispiel Wohngruppe zuzuordnen. Da geht es um Themen wir Therapie, Suchthilfe, Krankheiten oder Essstörungen. Wie gut läuft das aktuell? 

Vormund: Also wir sind mittlerweile in einer Situation, dass auf einen Platz in der Jugendhilfe - ich überspitze das mal - zehn Bewerbungen kommen. Die Jugendhilfeträger können sich mittlerweile die Sahnestücke rauspicken. Da wird auch nicht mehr geschaut, passt das bedarfsgerecht? Es wird nur noch geschaut: Macht der Jugendliche seine Schule? Ist er nicht psychisch auffällig? Nimmt er keine Drogen? Dann wird er genommen. Und die, die wirklich einen großen Bedarf haben, weil sie schlimme Erfahrungen gemacht haben auf der Flucht und sich dann selbst medikamentieren, die fallen hinten über.

Wie geht es den Jugendlichen, die Sie vertreten? Was erzählen die Ihnen?

Eine anonymisierte Person sitzt vor einer Kamera. © Screenshot
Ein Amtsvormund der Hamburger Sozialbehörde spricht anonym. Die Frau wünscht sich, dass junge Geflüchtete besser betreut werden.

Vormund: Denen geht es nicht gut. Sie sind voller Hoffnung, wenn sie ihr Erstgespräch haben, und das zerstören wir. Und zwar in jedem einzelnen Kennlerntermin. Ich produziere nur Enttäuschung, weil ich sagen muss: Es wird dauern, bis du einen Jugendhilfeplatz bekommst, also eine Jugendwohnung. Es wird dauern, bis dein Asylverfahren abgeschlossen ist. Ob wir deine Familie noch nachholen können, kann ich dir nicht sagen, weil die Verfahren so lange dauern. Das ist anstrengend für die Jugendlichen. Und es ist auch anstrengend für uns als Vormünder. Das macht auch was mit der eigenen Psyche.

Wieso ist die Situation in den Ämtern und Behörden in der Jugendhilfe gerade so angespannt? 

Vormund: Ich glaube, das ist ein Finanzierungsdruck, der dahintersteckt. Jugendhilfe ist eben ein Bereich, der nicht sofort einen wirtschaftlichen Output hat, sondern erst langfristig für die Gesellschaft Gewinn erzielt. Einen Jugendlichen, den wir heute integriert bekommen, der zur Schule geht, eine Ausbildung macht: Sein Mehrwert für die Gesellschaft, der ist ja erst da, wenn der Jugendliche wirklich arbeitet und auch Steuern zahlt. Aber das wird in so eine Rechnung nicht mit reingenommen. Es wird immer nur geguckt: Wie viel kostet uns so eine Hilfe-zur-Erziehungs-Maßnahme gerade? Wollen wir das eigentlich?

Merken Sie denn in der Behörde, dass das Problem erkannt wird? Gibt es den Willen etwas zu ändern? 

Vormund: Nein, das nehme ich nicht wahr. Wenn wir vielleicht mal lauter werden auf einer Personalvollversammlung, dann wird natürlich immer gesagt: Ja, wir nehmen uns des Themas an. Und dann passiert nichts mehr. 

Ich bin an einem Punkt, an dem ich meine Arbeit nicht mehr gut machen kann. Wo ich nicht mehr sagen kann, dass mir nichts durchrutscht, was vielleicht wichtig ist. Sei es, dass irgendwelche Anträge nicht gestellt werden bei Jugendlichen unter 16, bei einem Aufenthaltstitel, beim Kindergeld, Bafög ... 

Sehen Sie einen Unterschied zwischen Kindern, die in Deutschland geboren sind und in die Jugendhilfe wollen, und den Geflüchteten? 

Vormund: Ja, da sehe ich in der Tat einen sehr großen Unterschied. Den jungen Menschen mit Fluchterfahrung wird oftmals mehr abverlangt als den deutschen Jugendlichen. Sie bekommen zum Beispiel bei der medizinischen Versorgung nur die Basisleistungen und bei Weitem nicht das, was ein deutsches Kind bekommen würde an Krankenversorgung. 

Ein Jugendlicher, den wir betreuen, der beispielsweise eher ein therapeutisches Setting benötigt, wird trotzdem in einer normalen Einrichtung untergebracht. Wo keine Pädagogen vor Ort sind, die mit seiner Thematik vertraut sind. Das ist bei deutschen Jugendlichen einfach anders. Da wird geschaut: Was sind die Problemlagen? Was braucht der an Unterstützung noch? Was könnte eine gute Einrichtung sein? 

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Die jungen Geflüchteten müssen oft warten: Auf eine Wohnunterkunft, auf einen Schulplatz, auf einen Aufenthaltstitel. Welche Folgen hat das? 

Vormund: Wir haben mega-resiliente Jugendliche, wo ich denke: Mit deiner Fluchtgeschichte und der Geschichte aus dem Herkunftsland hätte ich mir schon zehnmal Drogen reingejagt, um das zu vergessen. Aber wir haben auch Jugendliche, die haben wenig Resilienz. Die konsumieren viel, um einfach dieses Monster im Kopf abzustellen. Um schlafen zu können. Um vergessen zu können, was sie erlebt haben. Wenn wir es nicht schaffen, diese Jugendlichen jetzt einzufangen, dann wenden sie sich von uns ab und wenden sie sich dahin, wo sie gesehen werden. Und das sind dann natürlich meistens Menschen, die nichts Gutes mit ihnen im Schilde führen. 

Blicken wir auf die rechtliche Situation: Erfüllt Hamburg seine Pflichten?

Vormund: Also die geflüchteten Jugendlichen in Hamburg werden grundversorgt. Kein Jugendlicher schläft bei uns auf der Straße. Jeder bekommt auch einen Schulplatz zugewiesen, auch wenn das manchmal Monate dauert. Und auf dem Papier haben sie alle einen Amtsvormund. Aber nur auf dem Papier. 

Aber was die Verwirklichung von Kinderrechten angeht: Das passiert hier nicht. Weil das System nicht gut aufgestellt ist. Definitiv nicht. Sei es bei den Jugendämtern. Sei es in der medizinischen Versorgung, sei es in der therapeutischen Versorgung. Und im Schulbereich. Ja, sie werden beschult, aber sie werden halt nur grundbeschult. Das ist keine schulische Ausbildung, wie sie Kinder erfahren, die hier geboren und eingeschult werden. 

Es wird immer nur geschaut: Kriegen wir den irgendwo unter und können wir dann einen Haken dran machen? Aber die Jugendlichen selbst auch zu beteiligen, das passiert ja in keiner Weise. 

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Würden Sie sagen, dass wir in manchen Fällen auch von Kindeswohl-Gefährdung sprechen?

Vormund: Ja, ganz klar. Allein der Umstand, dass nicht jeder Jugendliche einen Amtsvormund hat, der die Interessen so vertritt, wie es das Gesetz vorsieht, ist für mich eine Kindeswohl-Gefährdung. Ja, wir stellen die Anträge für die Hilfen zur Erziehung. Ja, wir stellen vielleicht die Asylanträge, aber das war's. Ansonsten hat der Jugendliche nichts. Es gibt Menschen im Helfersystem, die sagen: Es kann keine Kindeswohl-Gefährdung sein, weil Leib und Leben nicht in Gefahr sind. Ja gut, der stirbt vielleicht nicht. Aber was ist mit der psychosozialen Entwicklung? Da sehe ich definitiv Kindeswohl-Gefährdung.

Sie äußern sich anonym. Wieso wollten Sie dieses Interview geben, obwohl wir Sie ja nun auch unkenntlich machen müssen?

Vormund: Ich frage mich, wie wollen wir als Gesellschaft mit denjenigen umgehen, die am schwächsten sind? Ich könnte so viele Beispiele bringen von Jugendlichen, die nach Deutschland gekommen sind mit einer unglaublichen Fluchtgeschichte, die zur Schule gegangen sind, in die Ausbildung gestartet sind, auch schon Familien gegründet haben. 

Ich möchte einfach, dass eine Gesellschaft versteht, dass die, die am meisten Schutz brauchen, diesen Schutz auch verdient haben. Und wenn dies aber durch Verordnungen, Gesetze und so weiter nicht möglich ist, dann muss darauf aufmerksam gemacht werden, damit sich das ändert. Weil die jungen Menschen hier sind - und sie werden auch nicht mehr gehen. Und sie könnten für unsere Gesellschaft so gewinnbringend sein, wenn wir uns einfach gut um sie kümmern würden. 

Wenn Sie eine ehrenamtliche Vormundschaft übernehmen möchten, wenden Sie sich an den örtlichen Kinderschutzbund. Dort erhalten Vormünder Schulungen und Beratung.

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 17.07.2024 | 21:15 Uhr