Opferentschädigung: Keine Unterstützung für traumatisiertes Kind

Stand: 18.05.2021 11:15 Uhr

Der fünfjährige Alan muss mitansehen, wie sein Opa erstochen wird. Der Junge ist traumatisiert, Therapieversuche scheitern. In solchen Fällen greift eigentlich das Opferentschädigungsgesetz, doch das Verfahren in Niedersachsen zieht sich hin.

von Anne Ruprecht

Alles begann im Herbst 2014 in einem Hochhaus am Rande von Buxtehude. Der damals fünfjährige Alan wartet mit seinem Opa vor dem Aufzug. Sie wollen ein paar Etagen weiter nach unten fahren, wo der Junge mit seiner Mutter wohnt. Überwachungskameras dokumentieren, was dann passiert.   

Vor dem Aufzug begegnet ihnen ein Mann. Er ist vorbestraft und psychisch krank, hört Stimmen und fühlt sich von Dämonen verfolgt. Erst wenige Wochen zuvor stand er noch vor Gericht. Sein eigener Anwalt hielt ihn für so gefährlich, dass er beantragte, ihn in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Das Gericht aber ließ ihn frei.

Arglos steigen Großvater und Enkel mit dem Mann in den Aufzug. Beim Hinausgehen zieht er ein Messer und sticht zu. Der Großvater stirbt vor den Augen des Enkels. Über sechs Jahre ist das nun her. Seitdem kämpft der Junge gegen dieses Trauma.

Alan kapselt sich nach der Tat ab

Alans Mutter
Ist verzweifelt: Alans Mutter.

Ihr Sohn sei ein fröhliches Kind gewesen, erzählt die Mutter. Doch nach der Tat kapselt er sich ab, von der Welt draußen, von anderen Kindern. Er hört auf, Deutsch zu sprechen und antwortet nur noch auf Polnisch, seiner ersten Muttersprache. Seiner Mutter erklärt er, dass er kein Deutsch mehr sprechen wolle. "Er hat gesagt, dass es daran liegt, dass Deutsch ihn an alles erinnert, was er miterleben musste."

Die Mutter versucht, den Jungen aufzufangen und hofft, dass die Familie ihm Halt gibt. Doch auch nach seiner Einschulung findet Alan keinen Anschluss. Er spricht kaum mit den Lehrern, ist teilnahmslos. Therapieversuche scheitern, auch an der Sprache. Die Mutter ist verzweifelt. "Keiner hat es geschafft, zu ihm durchzudringen."

Antrag auf Opferentschädigung zieht sich hin

Ende 2017 wird Sylvia Köhnken auf den Fall aufmerksam. Sie sitzt im Stadtrat von Buxtehude. Köhnken spricht polnisch und will der Familie helfen, sie unterstützen. Gemeinsam mit der Mutter stellt sie einen Antrag beim Staat nach dem Opferentschädigungsgesetz. Weil der Staat Opfer von Gewalttaten nicht geschützt hat, sollen sie entschädigt werden für die körperlichen und psychischen Folgen - etwa mit kleinen Rentenzahlungen.

Sylvia Köhnken
Will die Familie unterstützen: Sylvia Köhnken.

Seit 2018 unterstützt auch Christian Au, Fachanwalt für Sozialrecht, die Familie. Genau für solche Fälle sei dieses Gesetz eigentlich gemacht, sagt er. "Ich habe gedacht: okay, jetzt kommt noch mal mein Briefkopf dazu und jetzt geht das Ganze sofort los." Doch das Verfahren beim Landesamt für Soziales in Niedersachsen zieht sich in die Länge. Es werden immer wieder neue Dokumente angefordert.

Alan zieht nach Polen

In der Zwischenzeit wird klar, dass der Junge in Deutschland so keine Zukunft hat. Ein weiterer Therapieversuch scheitert, in der Schule wird Alan nur aus pädagogischen Gründen versetzt. Anfang 2019 trifft die Mutter die schwerste Entscheidung ihres Lebens.

Alan soll bei seinem leiblichen Vater in Polen leben. Sie bleibt in Deutschland - sie hat hier mit ihrem Partner zwei weitere Kinder. Sie hofft, dass es Alan in Polen besser geht. Dort kann er polnisch sprechen - in der Schule und in einer möglichen Therapie.

Dolmetscher taucht nicht auf

Christian Au, Fachanwalt für Sozialrecht
Unterstützt die Familie seit 2018: Christian Au, Fachanwalt für Sozialrecht.

Ende 2019 scheint das Verfahren beim Landesamt voranzugehen. Das Amt teilt mit: Eine Klärung des medizinischen Sachverhalts ausschließlich nach Aktenlage sei leider nicht möglich. Deshalb wird ein Termin bei einem Gutachter, einem Kinderpsychiater, angesetzt. Der soll im Januar 2020 stattfinden.

Die Behörde weiß, dass der Junge in Polen lebt und über 1.200 Kilometer weit anreisen muss. Schriftlich klärt der Anwalt noch einmal mit der Behörde: es muss ein Dolmetscher da sein während der Begutachtung. Alles scheint geklärt. Der Junge reist an. Doch der Dolmetscher ist nicht da. Die Begutachtung kann also nicht stattfinden. Einen weiteren Termin Wochen später muss die Mutter absagen, weil sie für dieses Datum keine Reise-Begleitung für ihren Sohn findet. Sie bitten um einen neuen Termin, haken immer wieder nach.

Ablehnungsbescheid - ohne Gutachten

Im November 2020 schließlich meldet sich die Behörde. Doch statt eines neuen Termins kommt der Ablehnungsbescheid - ohne psychologisches Gutachten. Nach Aktenlage sei der nötige Beweis eines Schadens aufgrund der Tat nicht möglich, teilt das Amt mit. Der Antrag werde darum wegen "Beweislosigkeit" abgelehnt. Diese Begründung des Ablehnungsbescheids mache ihn fassungslos, sagt Rechtsanwalt Au. "Der Junge hat sich nichts zuschulden kommen lassen, sondern steht für eine Begutachtung nach wie vor bereit!"

Landesamt äußert sich nur schriftlich

Beim Landesamt für Soziales will man sich vor der Kamera nicht äußern. Warum der Dolmetscher nicht kam, wisse man nicht, teilt das Amt schriftlich mit. "Die Organisation der Termine obliegt grundsätzlich den beauftragten Gutachterinnen und Gutachtern." Nachdem der Gutachter im Sommer keine Möglichkeit für einen weiteren Termin gesehen habe, habe die Behörde nach Aktenlage entschieden, um die abschließende Bearbeitung des Antrages "nicht noch weiter zu verzögern."

Dass die Behörde den Fall so zu den Akten legen möchte, ist für die Mutter völlig unverständlich. Über ihren Anwalt hat sie Widerspruch eingelegt. Sie will, dass der Staat Verantwortung übernimmt und ihrem Sohn eine Entschädigung bezahlt. Für ein Trauma, das niemand mehr ungeschehen machen kann.

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