Neue Fluchtroute: Über Belarus nach Mecklenburg-Vorpommern

Stand: 09.11.2021 17:00 Uhr

Im Sommer tauchten die ersten Geflüchteten in den Wäldern Mecklenburg-Vorpommerns auf. Inzwischen ist die Region Teil einer internationalen Fluchtroute - eine Reportage von der Grenze.

von Annette Kammerer, Nadja Mitzkat, Amir Musawy

"Da ist er", sagt Enrico Manthe und tippt auf sein Handy. Er ist Jäger in Plöwen, einem 300-Seelen Dorf an der deutsch-polnischen Grenze. Eigentlich fotografiert er mit seinen Wildkameras Wildschweine, vielleicht mal einen Wolf. Doch seit Sommer laufen ihm im Wald plötzlich auch Menschen vor die Linse. "Wer wildert denn bei mir?", dachte er erst, als er das schwarz-weiß Bild eines Mannes sah. "Aber dann wusste ich: Die sind wieder unterwegs."

Jäger Enrico Mathe (re.) blickt einem Polizeifahrzeug an der deutsch-polnischen Grenze hinterher. © NDR
Jäger Enrico Mathe (re.) ist besorgt über die Flüchtlingsproblematik an der deutsch-polnischen Grenze.

Mit "die" meint der Jäger Menschen, die seit Sommer über die sogenannte "Belarus Route" bis nach Mecklenburg-Vorpommern kommen. Eine Fluchtroute, die an Flughäfen wie Dubai beginnt und oft in Dörfern wie Plöwen ihr vorläufiges Ende findet. Nämlich dann, wenn Anwohner wie Manthe die Bundespolizei rufen.

"Diese Situation, die es seit August gibt, das ist eine neue Situation"

Ein paar Dörfer weiter, in Grambow, hat Emanuel Reim seine Felder: "Immer an der Grenze entlang im Prinzip". Schon mehrmals seien hier Menschen über den Grenzzaun gestiegen, der eigentlich wegen der afrikanischen Schweinepest errichtet worden ist. Mal wurden Menschen auch direkt am Dorfanger vor seinem Betrieb von einem Multivan ausgesetzt. Für ihn sei das alles schwer zu begreifen, erklärt der 34-Jährige: Wie kommen Menschen aus dem Nahen Osten nach Weißrussland? Und dann weiter durch Polen nach Deutschland? "Das ist doch relativ abstrakt."

Im August hat die Bundespolizei an der Grenze zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Polen 104 "illegal einreisende" Personen festgestellt. Im Oktober waren es schon 754 - also sieben Mal so viele.

Heidelore Hobom, Bürgermeisterin von Plöwen. © NDR
Bürgermeisterin Heidelore Hobom fühlt sich schlecht informiert.

Die Kommunen seien davon zunächst nicht unterrichtet worden, kritisiert Heidelore Hobom, Bürgermeisterin von Plöwen. Weder die Bürgermeister, noch das übergeordnete Amt hätten erfahren, warum überall plötzlich Grenzpolizei patrouilliere und warum quasi aus dem Nichts Menschen im Wald auftauchten.

Tatsächlich war der Bundespolizei schon mit der ersten Befragung klar, sagt Igor Weber von der Bundespolizeiinspektion Paswalk, dass hier "etwas Neues" entstanden sei: "Diese Situation, die es seit August gibt, das ist eine neue Situation."

Pushbacks statt Hotelübernachtung

Einer der über diese neue Route gekommen ist, ist der Anfang 30-jährige Ahmad, der eigentlich anders heißt. Er ist mit einem Flugzeug aus dem Irak über Dubai nach Minsk geflogen. Mit Visum. Das Reisebüro, dessen Angebot er über Social-Media-Posts fand und an das er 2.500 Dollar für die Reise gezahlt hatte, versprach ihm Hotelübernachtungen in Minsk und eine Versicherung für die Reise.

Flüchtling "Ahmad" (Name von der Redaktion geändert) kam über die Belarus-Route. © NDR
Kam über die neue Belarus-Route: Flüchtling "Ahmad" (Name von der Redaktion geändert).

In Minsk gelandet ging es für Ahmad vor gut drei Wochen sofort an die Grenze zu Polen, wo er zu Fuß versuchte, rüber zu kommen. Immer wieder hätten ihn die polnischen Grenzer nach Weißrussland gedrängt und die weißrussischen wiederum zurück nach Polen gezwungen. "Dieses Ping Pong" erzählt er, "dieses Hin und Her ging sechs Mal". Eine ganze Woche lang. Es sei kalt gewesen, sie hätten nichts zu Essen und zu Trinken gehabt.

Bundespolizei nennt Transporte "menschenunwürdig"

Schleusung sei ein schmutziges Geschäft, weiß auch die Bundespolizei in Mecklenburg-Vorpommern. Es ginge dabei nicht um die Menschen, sondern ums Geld verdienen. "Man sieht den Personen an, dass sie einiges hinter sich haben", hält Igor Weber von der Bundespolizeiinspektion fest. Viele von ihnen hätten einen schnellen Transport durch Polen erlebt, "der stellenweise sehr menschenunwürdig ist."

Derweil rufen Rechtsextreme wie die NPD zu "Grenzgängen" auf. Nach dem Motto "Nie Wieder 2015!" posieren Menschen in Tarnkleidung an Grenzübergängen oder laufen öffentlichkeitswirksam durch die Sächsischen Wälder. Ein Narrativ, das mittlerweile auch die AfD bedient. Das Landeskriminalamt in Mecklenburg-Vorpommern beobachte die Lage zwar, es sei allerdings kein organisierter Grenzgang bekannt, heißt es dort auf Nachfrage. Im Netz findet sich lediglich ein Foto der rechtsextreme Gruppe "AKK Seenplatte" am Grenzgang Usedom. 

Grenzgänger: PR oder Wirklichkeit?

Heidelore Hobom glaubt nicht, dass es in Mecklenburg Vorpommern zu solchen Grenzgängen wie in Sachsen oder Brandenburg kommt. "Die kommen aus dem Wald und werden durch die Polizei aufgegriffen", erzählt sie. Außerdem sei die Bundespolizei hier sehr aktiv und die Probleme auch andere: "Wir sind ja eine Region, die nicht sehr gut gesegnet ist. Weder mit Arbeitsplätzen, noch mit Löhnen, noch mit Einkommen. Und ich denke mal, das ist eigentlich viel mehr der Punkt."

Auch Landwirt Reim sieht zwar, dass es hier eine latente fremdenfeindliche Stimmung seit 2015 gebe. Doch eigentlich habe die mit der Problematik hier nichts zu tun, weil die Geflüchteten, die jetzt aufgegriffen werden, nicht hier blieben. Die latente Unzufriedenheit der Leute schlage sich manchmal "auch auf solche Probleme" durch. Wirklich verstehen könne er das nicht.

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 09.11.2021 | 21:15 Uhr

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