Deutsche Bahn: Schienennetz vor dem Kollaps
Mehr Baustellen, mehr Verspätungen. Die Bahn steht vor dem Kollaps. Warum sind die Probleme nicht längst behoben?
Lokomotivführer Enrico Grudnick ist mit seinem Güterzug auf dem Weg von Hamburg nach Dresden. Immer wieder stehen Signale auf Rot und er muss warten, immer wieder muss der schwere Güterzug auf ein Abstellgleis, um schnelle ICEs vorbeizulassen. "Das Verkehrsaufkommen ist so viel größer geworden. Bloß an der Infrastruktur ist nichts passiert", sagt Grudnick. Ein paar Tage später auf dem Hamburger Hauptbahnhof: Die Bahnsteige voller wartender Menschen, die Anzeigetafeln voller Verspätungsmeldungen. Ein anderes Bild, aber der gleiche Grund: Das Schienennetz ist vielerorts überlastet.
Bauarbeiten führen zu Verzögerungen
Im Juli lag die Pünktlichkeit von Fernzügen deutschlandweit bei nicht einmal 60 Prozent. Die Hauptursache dafür sehen Experten im Zustand des Schienennetzes: Zum einen seien Strecken und Gleise über viele Jahre vernachlässigt worden. Das habe nach und nach zu immer mehr Probleme geführt, sagt Bahnexperte Christian Böttger von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin: "Jetzt haben wir einen Punkt erreicht, wo man mehr Geld reinstecken muss. Und die Bauarbeiten bedeuten dann eben auch zugleich immer stärkere Sperrungen und damit eben weitere Verzögerungen."
Ein zweiter wesentlicher Punkt für Verspätungen sind zu wenige Gleise. An vielen Stellen im Netz wurde jahrelang versäumt, weitere Gleise zu bauen. Für Ingulf Leuschel ein zentrales Problem. Als ehemaliger Konzernbevollmächtigter der Deutschen Bahn weiß er, wie anfällig das System ist - und wie notwendig genügend Gleise für einen reibungslosen Schienenverkehr sind: "Sie müssen Ausweichstrecken haben, Sie müssen Umfahrungsmöglichkeiten haben im Störfall, wie Sie es bei jeder Autobahn haben, aber das haben wir eben zu wenig." Überfällige Reparaturen verzögern den Verkehr, und der Bau neuer Gleise lässt auf sich warten.
Widerstand gegen neue Trassen
Die Folge: Das deutsche Schienennetz kommt an vielen Stellen an seine Grenzen. Das liegt nicht allein an zu geringen Investitionen, sondern auch daran, dass Bauvorhaben immer wieder an den Widerständen der Bevölkerung scheitern oder durch diese massiv in die Länge gezogen werden.
Ein Beispiel ist die Strecke zwischen Hamburg und Hannover. Seit Jahrzehnten wird versucht, die Zahl der Züge zwischen den beiden Städten deutlich zu erhöhen. Die ursprüngliche Neubau-Variante, die sogenannte Y-Trasse, war als ICE-Trasse von Hannover nach Hamburg und Bremen gedacht, scheiterte aber an Protesten aus der Bevölkerung. 2015 einigte sich dann das "Dialogforum Schiene Nord", ein Zusammenschluss aus Kommunen, dem Land, dem Bund und der Bahn auf die sogenannte Alpha-E-Variante: Die Bestandsstrecken sollten danach lediglich modernisiert und etwas ausgebaut werden, unter anderem mit einem weiteren Gleis zwischen Lüneburg und Uelzen.
Drei Optionen für Ausbau zwischen Hamburg und Hannover
Aber schon 2016 stellte ein Bundesgutachter fest, dass diese Variante nicht ausreicht, weil auf der Trasse mehr Kapazität benötigt wird. Deshalb folgte darauf das Projekt "Optimiertes Alpha-E plus Bremen". Diese Variante geht über die Einigung von 2015 hinaus. Denn für das Projekt sind laut DB zwei zusätzliche Gleise zwischen Stelle und Celle notwendig. Dafür prüft die Bahn aktuell drei verschiedene Optionen: Eine Option wäre, die neuen Gleise direkt entlang der bestehenden Strecke zu bauen, die durch diverse Städte und Orte führt. Darüber hinaus könnte die Strecke auch an einzelnen Orten vorbeigeführt werden. Eine andere Möglichkeit wäre, eine Neubautrasse abseits der bisherigen Gleise zu bauen, zum Beispiel entlang der Autobahn A7.
Die Ergebnisse der Prüfung will die Bahn bis Ende des Jahres vorlegen. Wann auf der Strecke tatsächlich etwas passiert, ist allerdings völlig offen. Gegen jede der Streckenvarianten gibt es Widerstand aus der Bevölkerung.
Landesregierung gegen Neubautrasse
Und auch in der Politik herrscht keine Einigkeit: In einigen angrenzenden Gemeinden beziehen sich Landräte und Bürgermeister noch immer auf den Kompromiss von 2015, drängen also darauf, die ursprüngliche Alpha-E Variante umzusetzen. Auch Niedersachsens Verkehrsminister Bernd Althusmann (CDU) fordert jetzt im Wahlkampf, diese Alpha-E-Variante zu bauen. Eine Neubautrasse lehnt Niedersachsen kategorisch ab. "Wir werden dem alles entgegensetzen", sagt Bernd Althusmann. Und das, obwohl klar ist, dass der Deutschlandtakt damit nicht erreicht werden kann - also das Ziel, dass auf allen wichtigen Fernverkehrs-Verbindungen Züge alle halbe Stunde fahren - und obwohl die ursprüngliche Alpha-E-Variante für das Bundesverkehrsministerium schon seit Jahren vom Tisch ist. Das bestätigt der Schienenbeauftragte der Bundesregierung Michael Theurer (FDP). Das "Optimierte Alpha-E Plus" sei durch einen Bundestagsbeschluss in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen worden: "Das ist geltendes Bundesgesetz."
Ziel der Bundesregierung unerreichbar?
Die Strecke zwischen Hamburg und Hannover ist nur ein Beispiel dafür, wie langwierig und kompliziert Bauvorhaben der Bahn sind. Doch genau auf den schnellen Bau von weiteren Gleisen kommt es an, wenn auch nur annähernd erreicht werden soll, was die Bundesregierung im Koalitionsvertrag angekündigt hat: Sie will den Anteil der Schiene am Güterverkehr bis 2030 von rund 18 Prozent (2020) auf 25 Prozent steigern und die Verkehrsleistung im Personenverkehr verdoppeln. Für Ingulf Leuschel undenkbar. "Wir werden mit Sicherheit bei dieser Infrastruktur keine Verdoppelung der Fahrgastzahlen hinbekommen und auch das Güterverkehrsaufkommen nicht merklich steigern können."
Michael Theurer im Bundesverkehrsministerium verweist darauf, dass man mehr Geld in das Schienennetz stecken wolle. Mehr Geld also soll der Bahn aus dem Chaos helfen. Damit die Menschen "die Uhr wieder nach der Bahn stellen können", wie Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) unlängst ankündigte, braucht es aber auch den politischen Willen, neue Bahntrassen schnell zu bauen - auch gegen Widerstände.