Corona-Pandemie: Gefährliches Wundermittel hat Konjunktur

Stand: 20.10.2020 18:18 Uhr

Mit Beginn der Corona-Pandemie kursieren Therapien gegen COVID-19 von zweifelhafter Qualität. Die Einnahme von MMS-Produkten soll gegen Corona wirken. Ein wissenschaftlicher Beleg existiert nicht.

von Jörg Hilbert, Lea Struckmeier

Mit der Corona-Pandemie haben Quacksalber und gefährliche Pseudotherapien Hochkonjunktur. Eine vermeintliche Therapie basiert auf der Einnahme von Chlordioxid. Das soll nicht nur gegen Krebs und viele andere Krankheiten, sondern auch gegen Corona wirken. Ein wissenschaftlicher Beleg für eine solche Wirkung existiert nicht. Nachgewiesen ist hingegen die Gefährlichkeit des Präparats, das auch als "Miracle Mineral Supplement" - kurz: MMS - bekannt ist: Dieses wirkt auf Haut und Schleimhaut je nach Konzentration reizend bis ätzend. Die Folge können unter anderem Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, schwere Darmschädigungen und Nierenversagen sein.

Chlordioxid wird in Seminaren angepriesen

Durch einen Hinweis werden wir auf ein Seminar aufmerksam. Dort soll es vordergründig um die Anwendung von Chlordioxid bei Tieren gehen. Geleitet wird die Veranstaltung von einer Tierheilpraktikerin. Wir haben uns unter anderem Namen verdeckt angemeldet. 14 Teilnehmende sind anwesend. Und es geht hier nicht nur um Hunde oder Katzen, sondern auch um die Behandlung von Menschen. Die Tierheilpraktikerin steht vorn im Raum, leitet an: Die Teilnehmer stellen Chlordioxid (MMS) her - eine ätzende Substanz aus Natriumchlorit und Salzsäure, die uns als Wundermittel angepriesen wird. Die Tierheilpraktikerin verkündet: "Wenn ich eine schwere Krebserkrankung habe - da würde ich eher MMS nehmen. Oder wenn ich Corona habe - da würde ich auch eher MMS nehmen."

Eine Teilnehmerin fragt nach einem Mittel gegen ihren Heuschnupfen. Die Tierheilpraktikerin empfiehlt drei Tropfen Chlordioxidlösung direkt ins Auge. Die fertig gemischte Substanz wird dann auch gleich mit Wasser gestreckt in dem Seminar getrunken. Danach klagen manche über Unwohlsein und Schwindel. Für die Teilnehmerinnen scheint diese Reaktion aber nur der Beweis für die heilende Wirkung zu sein. Wir entsorgen unseren Trunk lieber auf der Toilette.

Nach dem Seminar können wir das selbst hergestellte Chlordioxid in Fläschchen mitnehmen. Und es gibt auch einen Schnellhefter mit Dosierungsanleitung für Mensch und Tier dazu. Darin empfiehlt die Tierheilpraktikerin für Menschen fünf bis sieben Tropfen pro Gabe in ein Glas Wasser. Zum Trinken. Ein Interview dazu hat sie abgelehnt. Schriftlich teilt sie uns mit: Es sei auf dem Seminar um die Anwendung bei Tieren gegangen. Sie habe Chlordioxid nicht als Heilmittel gegen Corona, Krebs und Heuschnupfen bezeichnet. Humanmedizin sei nicht ihr Fachgebiet.

Experte warnt vor den Folgen der Einnahme

Bernd Mühlbauer © NDR Foto: Screenshot
Prof. Bernd Mühlbauer ist Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Klinikum Bremen-Mitte.

Wir wollen wissen, wie riskant der Umgang mit den Flüssigkeiten aus dem Seminar sein kann. Ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet ist Prof. Bernd Mühlbauer. Er leitet als Direktor das Institut für Klinische Pharmakologie am Klinikum Bremen-Mitte. Das Hantieren mit den Flüssigkeiten mit bloßen Händen, wie im Seminar der Tierheilpraktikerin geschehen, hält er für gefährlich - wegen der Salzsäure. Und auch das Gemisch mit Natriumchlorit ist immer noch ätzend. Es könne nach der Einnahme zu Nekrosen zum Beispiel im Mund oder der Speiseröhre führen. Da "stirbt Gewebe oberflächlich ab und das kann ziemlich weh tun", warnt der Professor.

Zur Empfehlung im Seminar, die Chlordioxidlösung gegen Heuschnupfen direkt in die Augen zu geben, sagt Mühlbauer: "Da gehen natürlich beim Pharmakologen, Toxikologen alle roten Lampen an, die Augenhaut, Cornea nennen wir die, ist extrem empfindlich, und wenn da auch nur ein kleiner Fehler in den Mischungsverhältnissen gemacht würde dann könnte das definitiv zur Erblindung führen."

Keine wissenschaftlichen Belege

Jörg Heynemann © NDR Foto: Screenshot
Jörg Heynemann ist Fachanwalt für Medizinrecht und kritisiert das Vorgehen mancher Ärzte und Heilpraktiker in Bezug auf Chlordioxid.

Eine ätzende Mischung aus Salzsäure und Natriumchlorit: Chlordioxid - angepriesen als Hoffnung bei allen möglichen Krankheiten. Was droht denen, die so einen gefährlichen Unsinn empfehlen? Das fragen wir den Anwalt für Medizinrecht Jörg Heynemann. Es werde ein Heilversprechen gemacht, was objektiv nicht realisierbar sei, betont Heynemann. "Es gibt keine wissenschaftlichen Belege, dass es gegen Krebs oder Corona hilft, das ist ein Verstoß gegen das Heilmittelwerbegesetz und kann letztendlich zu einer Strafverfolgung führen."

Weltweit wird von Aufsichtsbehörden vor der Einnahme von Chlordioxid gewarnt. In Bolivien gab es bereits Tote und auch in den USA. Trotzdem wird Chlordioxid weiter angepriesen. Die Fangemeinde verbreitet ihre kruden Theorien vor allem über das Internet. Gegen Vorwürfe wehrt sich die Szene: Die Medien würden Chlordioxid im Sinne der Pharmalobby schlecht darstellen.

Sogar Mediziner sollen den Glauben an das Wundermittel Chlordioxid verbreiten. Auf der Internetseite einer Ärztin entdecken wir eine Liste mit verschiedenen Krankheiten, bei denen Chlordioxid angeblich helfen soll. Für Schwerstkranke wären Chlordioxid-Infusionen ideal, steht dort zu lesen - mit dem Zusatz, dass diese nur von Fachpersonal durzuführen seien.

Verantwortung wird zum Patienten geschoben

Rät die Ärztin ihren Patienten tatsächlich zu Chlordioxid? Um das herauszufinden haben wir uns um einen Termin bemüht, wieder verdeckt unter anderem Namen. Wir treten als Vater und Tochter auf. Vor dem Termin muss der Patient einen Haftungsausschluss unterschrieben. Mit dem nimmt er zur Kenntnis, dass Chlordioxid kein anerkanntes Heilmittel sei und Nebenwirkungen haben könne. Die Verantwortung also schon vorher zum Patienten geschoben.

Nach dem Schildern der Krankengeschichte kommt die Ärztin schließlich zur Sache. Sie holt ein Buch hervor. Es ist ein von ihr verfasstes Chlordioxid-Handbuch. Sie erklärt uns Chlordioxid würde Viren und Bakterien oxidieren, Krebszellen auch, aber nicht immer. Das Buch solle bei uns zuhause sein, darin sei genau erklärt, wie man das machen könne. Ausführlich erklärt uns die Ärztin die Anwendung des Chlordioxids. Man habe davon selbst keine Nebenwirkungen. Wenn man einen empfindlichen Magen habe, würde man es merken. Und zur Wirksamkeit sagt sie: Menschen mit jahrelanger Krankheitsgeschichte hätten das ein paar Tage oder Wochen eingenommen - dann sei es weg gewesen. Zwar erwähnt die Ärztin immer wieder, dass sie Chlordioxid nicht empfehlen dürfe - legt die Einnahme jedoch schon nahe.

Rund 300 Euro kostet uns der zweistündige Termin in der Praxis am Ende, das Handbuch der Ärztin inklusive. Wir kaufen es direkt in der Praxis. Alle Interviewanfragen nach unserem Termin dort hat die Ärztin abgelehnt, auch schriftliche Fragen wollte sie nicht beantworten.

Chlordioxid gefährdet Menschen und hat keinerlei erwiesene Heilwirkung. Die Quacksalber machen damit trotzdem gute Geschäfte.

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Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 20.10.2020 | 21:35 Uhr

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