Bremerhaven: Behördenversagen bei Hartz-IV-Betrug?
Sozialbetrug in Höhe von sechs Millionen Euro vor den Augen der Behörden: Der Vorwurf in Bremerhaven klingt eigentlich unfassbar. Im Mittelpunkt der Affäre steht Selim Öztürk, Vater des ehemaligen SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Patrick Öztürk. Über zwei Vereine soll Öztürk Hunderten Zuwanderern, vor allem Roma aus Bulgarien, Scheinarbeitsverträge ausgestellt haben. Die darin genannten Löhne wären fürs Überleben zu gering gewesen, deshalb gab es den Antrag zur Aufstockung mit Hartz IV offenbar gleich mit dazu.
Von diesem System sollen nicht nur die Zuwanderer profitiert haben, sondern auch Selim Öztürk selbst: Für jeden scheinbar vermittelten Arbeitsvertrag, für jede Unterstützung beim Jobcenter verlangte er offenbar von den Zuwanderern Geld, teilweise auch monatliche Pauschalzahlungen. Einige der Zuwanderer sollen auch Mieter der Familie Öztürk gewesen sein.
So funktionierte das System Oztürk
Erstmals sprechen gegenüber Panorama 3 und Radio Bremen Zuwanderer darüber, wie sie in das System verstrickt waren: "Alle Bulgaren waren bei Selim", erzählt Sofia Illianev (Name von der Redaktion geändert). "Eine Bulgarin hatte mich vorgestellt. Sie hat erzählt, er würde Arbeit vermitteln, gebe selbst Arbeit und hilft auch beim Jobcenter." Sie selbst habe als Putzkraft gearbeitet, in der Regel aber deutlich weniger Stunden als im Arbeitsvertrag vereinbart. Ihr Mann Boris will erst spät bemerkt haben, dass es sich um Betrug gehandelt hat: "Spätestens, als ich Selim 600 Euro bezahlen sollte, wurde mir das klar." Über die geforderten Gebühren floss wohl ein Teil des Aufstockergeldes an Selim Öztürk zurück. Öztürk will sich zu den Vorwürfen nicht äußern.
Keine Behörde fühlte sich verantwortlich
Die Behörden in der Stadt erreichten wohl früh Hinweise auf das System Öztürk. Im Kompetenzwirrwarr kümmerte sich aber offenbar lange Zeit keiner darum. Im Jobcenter Bremerhaven kam schon 2013 der erste Verdacht auf - weil man ein Schwarzarbeitsdelikt vermutete, leiteten die Beamten die Unterlagen jedoch an den Zoll weiter. Der Zoll wiederum teilte dem Jobcenter mehrmals mit, dass er die Zuständigkeit ebenfalls nicht bei sich sehe, es gehe doch um Betrug. Auch im Sozialdezernat gingen Hinweise auf das System Öztürk ein, doch selbst konkrete Hinweise waren offenbar zu vage. Deshalb machte man lieber nichts.
Erst 2015 kamen Ermittlungen in Gang, angeschoben durch Anzeigen des Sozialdezernenten und des Jobcenters. Die Staatsanwaltschaft arbeitet sich durch die Akten. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss in der Bremer Bürgerschaft hat sich der Sache angenommen. Doch ob die geschätzt sechs Millionen Euro jemals wieder einzutreiben sind, bleibt abzuwarten.