Abschiebe-Stopp für Gefährder bei drohender Folter?
Izmulla ist drei Jahre alt, als er mit seiner Familie vor 15 Jahren nach Bremen kommt. Die kleine Familie stammt aus Dagestan, einer russischen Teilrepublik im Nordkaukasus. Sie hoffen auf ein besseres Leben in Bremen. Anfangs scheint es, als werde alles gut. Die Familie erhält einen Aufenthaltsstatus. Im Judoverein ist Izmulla erfolgreich, er besucht schließlich das Gymnasium. Doch schnell ist er überfordert - seine erste große Niederlage.
Anschluss an Salafisten
Er sucht Sinn und Halt. Den findet er schnell in der inzwischen verbotenen Moschee des "Kultur- und Familienvereins". Hier trifft er auf radikal-islamische Salafisten. Viele junge Menschen aus der Moschee-Gemeinde reisen später nach Syrien, um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Im Dezember 2014 durchsucht die Polizei die Moschee 2014. Bei der Razzia treffen die Polizisten auch auf Izmulla - zu diesem Zeitpunkt ist er 15 Jahre alt.
Chats über mögliche Anschlagsziele
Seitdem beobachten sie ihn, er erhält ein Ausreiseverbot. Jahre später werden sie fündig. Auf seinem Handy sollen sich Chats mit einem Islamisten aus Nordrhein-Westphalen befinden. Man habe über mögliche Anschlagsziele gesprochen. Dazu befinden sich dutzende Propaganda-Videos und eine Bombenbauanleitung auf Izmullas Handy. Konkrete Pläne für Anschläge gebe es nicht, doch für die Bremer Behörden steht fest: Izmulla ist gefährlich, so gefährlich, dass sie ihm jederzeit einen Anschlag zutrauen. "Wir sind der festen Überzeugung, dass er eine absolut gefährliche Person ist", so Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) gegenüber Panorama 3. "Deshalb tun wir alles um unsere Bevölkerung zu beschützen."
Verschärfte Abschiebegründe
Ein Instrument dafür ist der Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes. Ein scharfes Schwert. Ausländer, auch jene mit gültigem Aufenthaltstitel wie Izmulla - können sofort inhaftiert und abgeschoben werden, wenn sie für die deutsche Bevölkerung gefährlich genug sind.
Niedersachsen hat so dieses Jahr schon zwei Gefährder abschieben können, Mecklenburg-Vorpommern zwei weitere. Izmulla müsste also zurück nach Russland. Doch bei Izmulla gibt es ein Problem - mit den Menschenrechten. "Ihm droht dort menschenrechtswidrige Behandlung. Insbesondere in der Haft. Es droht ihm Folter. Es droht, dass sie versuchen alles Mögliche aus ihm herauszubekommen, ob er es nun weiß, oder nicht", meint Christine Graebsch. Die Jura-Professorin vertritt Izmulla vor Gericht. Doch die Gerichte sahen die Lage bislang anders. Sowohl das Bundesverwaltungsgericht, als auch das Bundesverfassungsgericht glaubten nicht, dass Izmulla Folter drohen könnte. Zumindest außerhalb seiner Heimat Dagestan sei er sicher.
Umkehr auf der Autobahn
Am 1. August 2017 saß Izmulla deswegen schon im Auto der Bremer Polizei. Im Morgengrauen fuhren maskierte Polizisten mit ihm Richtung Flughafen-Frankfurt. Doch fünf Minuten vor Frankfurt drehten Sie um, zurück nach Bremen. Was war passiert? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hatte Anfang August im Eilverfahren die Abschiebung vorerst gestoppt. Die höchste europäische Instanz wollte prüfen, ob Izmulla nicht doch Folter oder Misshandlungen drohen. Ob dies der Fall ist, ist der Knackpunkt. Die Bremer Behörden berufen sich auf die Einschätzung des Auswärtigen Amts. Sie sehen keine Gefahr für Izmulla, solange er nicht in den Nordkaukasus zurückkehrt.
Amnesty International: Folter droht in ganz Russland
Panorama 3 hat Izmullas Fall gegenüber Amnesty International geschildert. Die Organisation schätzt seine Lage jedoch ganz anders ein. Jemand mit dem Hintergrund Izmullas sei erheblichen Risiken ausgesetzt. "Sowohl Folter, als auch andere grobe Misshandlungen sind ein ernsthaftes Risiko, und zwar in der gesamten Russischen Föderation", so die NGO gegenüber Panorama 3.
Für Bremens Innensenator spielt die Einschätzung Amnesty International keine Rolle. Im Panorama 3 Interview sagt er: "Ich habe da eine sehr dezidierte Auffassung: Alle die hier waren, haben ihre Chance gehabt. Sie sind selber dafür verantwortlich, dass sie in ihre Länder geschoben werden und von daher hat der Schutz der Bevölkerung für mich eindeutig Priorität." Die Stadt Bremen habe schon dutzende Male vor Gericht ziehen müssen wegen Izmulla, das sei frustrierend.
"Menschenrechte gelten immer"
Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sieht solche Äußerungen kritisch: "Menschenrechte sind eigentlich immer anstrengend, weil sie entfalten ja erst dann ihre Wirkung, wenn es wirklich um Gefahren geht. Ja das mag auch mal frustrierend sein, aber Menschenrechte richten sich nicht danach, ob wir Sonnenzeit oder Gefährdungszeiten haben. Sie gelten immer." Der Fall Izmulla führt in ihren Augen zu einer eine Grundsatzentscheidung. "Menschenrechte müssen eben auch in diesen Fällen gleich in die Entscheidung einbezogen werden. Das ist natürlich ein grundsätzliches Dilemma. Und das wird es auch zukünftig bei ähnlichen Fällen sein."
Auch Innensenator Mäurer sieht das Dilemma. Das Problem des Terrorismus könne man durch eine Abschiebung natürlich nicht lösen, Gefährder würden dadurch "nicht besser". "Die Frage ist aber welche Alternativen haben wir? Ich bin dafür gewählt worden, dass es hier keinen Terroranschlag gibt. Und ich muss einfach die Zahl der Gefährder, die wir kontrollieren und beobachten müssen, reduzieren", so Mäurer weiter.
Dafür hat auch die ehemalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger Verständnis. Auch sie wolle nicht Opfer eines Anschlags werden und man brauche eine ordentliche Politik der inneren Sicherheit. "Aber wir dürfen nie und nimmer die Freiheitsrecht und die Menschenrechte wegschieben. Der Mainstream momentan ist leider eher: Uns geht es um Sicherheit, um andere Dinge kümmern wir uns, wenn wir das mit dem Terror hinter uns haben."
Nun ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Zug. Nach Informationen von Panorama 3 hat der Gerichtshof heute die Eilentscheidung am Abend aufgehoben. Ob die Hauptbeschwerde angenommen wird, darüber entscheidet das Gericht demnächst.