Kindesmissbrauch: Polizei löscht strafbare Bilder nicht (Manuskript)
Anmoderation Anja Reschke: "Ich hab jetzt mal ne gute Nachricht für Sie. Man ist ja ganz erschlagen von all den Krisen und Kriegen, denen man sich irgendwie ohnmächtig ausgeliefert fühlt. Aber ausgerechnet beim Thema Kindesmissbrauch, dessen Eindämmung so unmöglich erschien, kann man doch etwas machen. Wenn man nur will. Das Problem ist, dass die Polizei zwar massiv gegen Täter vorgeht, aber die Abbildungen von Kindesmissbrauch, also Fotos und Videos nicht aus dem Netz verschwanden. Zwar forderten und versprachen Innenminister, früher Horst Seehofer schon, dann Nancy Faeser, immer wieder, dass solche Aufnahmen dauerhaft gelöscht werden müssten. Nur passiert ist recht wenig. Für die Betroffenen ein unerträglicher Zustand. Was eigentlich Aufgabe der Behörden wäre, ist meinen Kollegen Robert Bongen, Tobias Hübers und Daniel Moßbrucker nun gelungen. Sie haben den Netzwerken und Plattformen der Pädokriminellen einen entscheidenden Schlag versetzt"
Endlich. Erfolg im Kampf gegen Kindesmissbrauch!
O-Töne
Tagesschau (08.10.2024): "Im Kampf gegen Kindesmissbrauch ist der Polizei ein Erfolg gelungen."
Welt (08.10.2024): "Eine große Kinderporno-Plattform ist nach einem Schlag gegen führende Hintermänner" abgeschaltet worden.
Tagesschau (08.10.2024): "Ermittler sprechen von einem schwindelerregend großen Fall."
Sat1 (08.10.2024): "Die Zahl der User sei in die hunderttausende gegangen."
Im Herbst schalten Ermittler ein weltweites Darknet-Forum für Pädokriminelle ab: "Alice in Wonderland". Ein schwerer Schlag für sie, betont Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul.
O-Ton Herbert Reul CDU, Innenminister NRW (08.10.2024): "Nachdem es diese Plattform nicht mehr gibt, ist der Szene eine zentrale Anlaufstelle, ein Tummelplatz für ihre Widrigkeiten genommen."
Die Täter gefasst. Alice in Wonderland abgeschaltet. Zehntausende Fotos und Videos, die schweren Kindesmissbrauch zeigen. Alles weg? Seit Jahren schon recherchieren wir immer wieder im sogenannten Darknet. Ein anonymer Bereich des Internets. Dabei machen wir eine überraschende Entdeckung.
O-Ton Panorama: "Der hat sich auf jeden Fall jemand richtig Mühe gegeben."
Knapp drei Wochen nach der Pressekonferenz finden wir eine Kopie von "Alice in Wonderland". Neue Adresse, aber mit fast allen alten Beiträgen. Und:
O-Ton Daniel Moßbrucker, Panorama-Datenjournalist: "Die Links funktionieren noch und wir sehen, die werden auch bis heute runtergeladen. Damit ist zwar die ursprüngliche Seite weg, aber das ganze Material, was dort verlinkt war, das zieht weiter seine Kreise und wird jetzt wieder in anderen Foren verteilt."
Wie kann das sein? Dazu muss man erstmal verstehen, wie solche pädokriminellen Foren funktionieren. Um ihre Aufnahmen zu tauschen, treffen sich Pädokriminelle in Darknet-Foren. Doch dort speichern sie ihre Aufnahmen nicht - denn hier gibt es zu wenig Speicherplatz.
Stattdessen laden sie ihre Aufnahmen bei kommerziellen Speicherdiensten hoch, sogenannten Hostern. Und die liegen im Clearweb, also im ganz normalen Internet. Diese Speicherdienste, das sind im Prinzip Anbieter wie Dropbox oder Google Drive, über die man große Dateien teilen kann. Jetzt posten die Pädokriminellen in den Darknet-Foren die Links zu ihren Dateien. Und tauschen so die Aufnahmen. Die Speicherdienste im Clearweb bekommen davon nichts mit, denn die Dateien sind verschlüsselt.
Was passiert aber, wenn man sie darauf hinweist, dass bei ihnen illegales Material liegt? Vor drei Jahren machen wir eine Stichprobe. Wir sammeln in den Foren Links zu Missbrauchsbildern ein und schicken sie den Speicherdiensten. Bis dahin schien keiner so wirklich auf diese Idee gekommen zu sein.
Überraschend: Alle löschen das Material sofort. Die Missbrauchsbilder der Stichprobe haben wir so erstmal entfernt. Es geht also - Unsere Recherche setzt damals die Politik unter Druck. Die Innenminister müssen sich rechtfertigen:
O-Töne
Nancy Faeser SPD, Bundesinnenministerin (ZDF, 08.06.2022): "Ich glaube, dass früher tatsächlich im Vordergrund immer stand, die Kinder zu finden. Die Täter ausfindet zu machen, also die Beweissicherung im Vordergrund stand. Mittlerweile weiß man aber, wie wichtig es ist, die Bilder zu löschen."
Joachim Herrmann CSU, Innenminister Bayern (Phoenix, 03.06.2022): "Wir müssen diese Verbrechen sofort aus dem Netz tilgen."
Herbert Reul CDU, Innenminister NRW (Panorama, 02.12.2021): "Ich finde das Konzept interessant, wir sollten es ernsthaft prüfen und gucken, ob und wie wir es umsetzen können."
Ankündigungen, die damals Betroffenen von sexueller Gewalt Hoffnung machen. Betroffenen wie Eva Winter. Sie wurde ihre gesamte Kindheit missbraucht. Ihre Eltern haben damit sogar Geld verdient. Weil sie Angst hat, dass die Täter sie finden könnten, haben wir Eva Winter optisch verfremdet. Von den Taten wurden damals regelmäßig Filmaufnahmen gemacht.
O-Töne
Eva Winter (Name geändert): "Ich habe immer wieder Angst gehabt, mich zu erbrechen, weil klar war, wenn das passiert, muss noch mal was wiederholt werden oder es gibt einfach massive Bestrafungen dafür."
Panorama: "Wie oft denken Sie daran: Was ist wohl aus diesen Aufnahmen geworden?"
Eva Winter: "Sehr oft. Ich. Ich habe das Gefühl, es ist eigentlich nie vorbei. Das ist eigentlich ein ständiger, subtiler Schmerz, den ich gar nicht richtig lokalisiert kriege. Und ich wünschte, dass es nicht so einfach ist, dass jemand mich und andere immer noch konsumiert."
Dass selbst alte Videoaufnahmen wie die von ihr bis heute im Darknet verbreitet werden können, Jahre und Jahrzehnte später, ist für Eva ein furchtbarer Gedanke.
O-Ton Eva Winter (Name geändert): "Ich finde es gerade ziemlich hart, weil jedes Posting beinhaltet Menschen. Und ich wünschte, ich hätte jemanden vor mir, der das einfach beenden würde. Der’s löschen könnte."
Was ist aus den Versprechungen der Politik geworden? Dass die Polizei bei Alice in Wonderland die Aufnahmen nicht gelöscht hat - nur ein Versehen? Offenbar nicht. Sehr viele Bilder wurden nicht gelöscht, manche haben mehr als acht Jahre und diverse Foren im Darknet überlebt.
O-Töne
Reporter: "Das heißt tatsächlich, dieser Link ist 2016 hochgeladen worden in ein Forum, was mittlerweile schon lange nicht mehr existiert."
Reporter: "Es gab schon zig andere dazwischen."
Reporter: "Dieser Link ist dann in ein weiteres Forum gewandert und da gepostet worden und dann wieder bei einem anderen. Und war die ganze Zeit online. Genau das die ganze Zeit."
Reporter: "es geht hier um Kinder. Die heißen Daphne, Irina und Kristina war 7 Jahre alt. Angelina 9."
Aufnahmen, die schlimmes Leid dokumentieren. Und die seit acht Jahren von der Polizei hätten - gelöscht werden können. Wie kann das sein? Aus Polizeikreisen hören wir: so einfach sei das mit dem Löschen nicht. Der Aufwand zu groß, die Ermittler überlastet, technisch zu kompliziert. Geht das also wirklich nicht? Was passiert, wenn man das mal systematisch angeht? Das wollen wir herausfinden. Und starten ein Experiment, das weltweit einzigartig ist. Mit zwei Kollegen, einem Daten-Journalisten und einem Informatiker, infiltrieren wir ein halbes Jahr lang alle großen Darknet-Foren. Wir sammeln dort automatisiert Links ein, zu Missbrauchsdarstellungen.
O-Ton Daniel Moßbrucker, Panorama-Datenjournalist: "Und jede Zeile, die hier gerade rausgespuckt wird, hat irgendwann mal ein Pädokrimineller gesagt. Ich poste jetzt hier einen Link. So. Und es läuft seit fünf Minuten."
Diese Infos schicken wir dann regelmäßig wieder an die Speicherdienste. Damit die Aufnahmen so schnell wie möglich gelöscht werden. Seit Jahren sind die Darknet-Foren immer größer geworden. Kann man die pädokriminelle Szene durch das dauerhafte Löschen schwächen? Oder sind es einfach zu viele Täter, zu viele Aufnahmen, um die Datenmenge zu reduzieren?
Wir sprechen darüber mit einem verurteilten Pädokriminellen. Andreas G. hat jahrelang selbst ein solches Darknet-Forum betrieben. Die Plattform "Boystown", die 2021 vom (BKA) abgeschaltet worden ist. G. wurde verurteilt zu zehn Jahren und sechs Monaten, mit anschließender Sicherungsverwahrung. Im Gefängnis wird uns ein Raum zugewiesen, in dem Inhaftierte normalerweise ihre Kinder treffen. Ein bizarrer Zufall.
Andreas G. bereue die Taten, deswegen gebe er das Interview. Er möchte nicht offen auftreten, wir haben ihn optisch verändert und zusätzlich verfremdet.
O-Töne
Panorama: "Was würde es für ein Forum bedeuten, wenn man dort durch aktives Löschen dafür sorgen würde, dass in diesem Forum keine Inhalte mehr wirklich verfügbar sind?"
Andreas G., Pädokrimineller: "Das wäre nervtötend. Das wäre hinderlich, weil das Terabyte an Daten wären, die wieder hochgeladen werden müssten. Die Mengen an Daten hochzuladen, das würde ewig dauern. Das würde wirklich richtig hart treffen. Und was ich nicht verstehen kann, ist, warum das nicht gemacht wird."
Panorama: "Von Seiten der Ermittler?"
Andreas G.: "Von Seiten der Behörden. Ich meine, dass die das nicht löschen, ist seit Jahren bekannt, in der Szene sowieso. Und da wird sich auch teilweise lustig drüber gemacht."
Panorama: "Was würde das für die Foren bedeuten im pädokriminellen Darknet, wenn so ein Ansatz mal großflächig durchgezogen wird?"
Andreas G.: "Wenn das wirklich dauerhaft und großflächig durchgezogen wird, ist das ein schlimmerer Schlag, als dass alle anderthalb Jahre mal ein Forum verschwindet, weil ein blöder Administrator hops genommen wurde. Das wäre auf jeden Fall eine mittelgroße Katastrophe."
Die Katastrophe für Pädokriminelle, von der Andreas G. aus dem Gefängnis spricht, tritt ein - in Folge unseres Experimentes. Alle Speicherdienste reagieren auf unsere Hinweise. Und Löschen. Immer weniger Aufnahmen sind in den Foren verfügbar. Es funktioniert fast nichts mehr. Und die Pädokriminellen sind extrem genervt.
Diverse Stimmen:
"Diese Website ist Müll."
"Es macht keinen Spaß mehr auf diese Seite zu gehen. Alle Links sind zu 99,5% down"
"Die Frustration versaut mir echt die Stimmung, und ich wende mich anderen Hobbies oder Interessen zu."
"Vielleicht ist es an der Zeit aufzugeben."
"Ich verabschiede mich aus der Pädo-Szene, weil es keinen Sinn mehr ergibt."
"Es ist vorbei."
Und dann noch eine Überraschung: "BoysRUs", das zweitgrößte Forum der Welt - gibt auf: "BoysRus ist nun geschlossen". Und es ist nicht das einzige Forum. "Luna Love" macht ebenfalls dicht. Ein drittes stellt den Betrieb faktisch ein.
O-Ton Daniel Moßbrucker, Panorama-Datenjournalist: "Wir schaffen es nicht nur, und das wäre schon wichtig genug, die Aufnahmen aus dem Netz zu holen. Wir schaffen es auch dieser Szene den Stecker zu ziehen, weil es einfach nichts mehr zu holen gibt."
Am Ende haben die Speicherdienste nach unseren Hinweisen insgesamt 310.199 Links gelöscht, zu Millionen Aufnahmen. Insgesamt 21,6 Terabyte Daten. So viel, als würde man sich anderthalb Jahre lang Videos anschauen. Rund um die Uhr. In hochauflösender Qualität. Aufnahmen, oft Jahre online. Alle weg. Und nun? Eigentlich hatte die Politik ja verstanden: Man wolle das jetzt machen, so Nancy Faeser. Aber offensichtlich stimmt das nicht, wie unsere Datenrecherchen zeigen. Wir berichten Innenministerin Faeser von unseren Ergebnissen, dass nichts besser geworden ist. Ihre Antwort - erstaunt:
O-Ton Nancy Faeser SPD, Bundesinnenministerin: "Also aus meiner Sicht ist es besser geworden. Wir haben jedenfalls unsere Bemühungen verstärkt. Das BKA hat sich dort besser aufgestellt und wir sind dort ganz hart unterwegs, auch noch weitere Befugnisse über Europa zu bekommen. Ich halte das für eine der wichtigsten Arten der Kriminalitätsbekämpfung."
"Besser aufgestellt"? "Ganz hart unterwegs"? Wir fragen beim BKA nach. Die Antwort klingt eher gedrechselt: Das BKA "betrachtet (...) die Ausgestaltung der Melde- und Löschprozesse fortlaufend" mit dem Schwerpunkt "schnellstmögliche Entfernung von Missbrauchsdarstellungen im Internet." Man "betrachtet". Handeln hört sich anders an.
So richtig scheint keiner mit der Wahrheit rausrücken zu wollen. Aufklärung bringt ein vertraulicher Bericht der Sicherheitsbehörden, an den wir am Ende unserer Recherche gelangen. Darin heißt es, dass die "die bestehenden Ressourcen nicht ausreichen". Zu wenig Leute also. Der Grund: Man könne nicht massenhaft löschen, "weil dem das ‚Legalitätsprinzip‘ entgegenstehe". Das "Legalitätsprinzip" bedeutet: Die Behörden müssen ermitteln, wenn sie einen Anfangsverdacht haben, dass eine Straftat vorliegt. Und jedes der Bilder im Netz zeigt im Zweifel eine Straftat. Das Argument der Polizei also: Wir fangen erst gar nicht an zu suchen und zu löschen, damit wir keine Straftaten finden - und jede einzeln ermitteln müssten. Denn wir haben nicht genug Polizisten, um dem nachzugehen.
Kann es wirklich sein, dass das nicht gelöst werden kann? Ein erster Schritt wäre, das Problem zuzugeben. Doch alle Verantwortlichen ducken sich weg. Nur einer stellt sich einem ausführlichen Interview: Der nordrhein-westfälische Innenminister Reul. Politisch verantwortlich für den Fall "Alice in Wonderland". Er ist erstaunlich ehrlich.
O-Töne
Panorama: "Wird mittlerweile gelöscht? Oder wird noch nicht gelöscht."
Herbert Reul CDU, Innenminister NRW: "Es wird nicht gelöscht. Also zumindest nicht so, wie ich es mir wünsche. Also es wird Fälle geben, immer. Aber nicht das, was wir damals überlegt haben. Dass man sehr grundsätzlich rangeht."
Wir berichten ihm, dass wir dieses Mal tatsächlich "sehr grundsätzlich" rangegangen sind. Mit Erfolg.
O-Töne
Panorama: "Ein Kommentar von einem deutschen User in einem sehr großen Forum war: Hallo, es macht keinen Spaß mehr hier auf diese Seite zu gehen. Alle Links sind zu 99,5 % down."
Herbert Reul,CDU, Innenminister NRW: "Ja."
Panorama: "Ich verabschiede mich aus der Pädo-Szene, weil es keinen Sinn mehr ergibt."
Herbert Reul: "Ja, aber das ist doch der Beweis, dass Ihre Vermutung, dass, wenn man so vorgeht, man da den Boden entzieht, das ist doch logisch: Wenn kein Material, dann kein Boden für solche Aktionen. Wie gesagt, das ist gut, da muss mich auch keiner mehr überzeugen."
Panorama: "Wir waren zwei Leute, die das ein halbes Jahr gemacht haben."
Herbert Reul: "Glückwunsch."
Panorama: "Für alle Foren, die es so gibt."
Herbert Reul: "Ja, gut gemacht."
Panorama: "Aber ist das nicht Ihre Aufgabe?"
Herbert Reul: "Ne, meine ist es nicht."
Panorama: "Ihre Aufgabe, das politisch anzuschieben?"
Herbert Reul: "Ja. Aber wissen Sie, mein Problem ist, dass die Probleme, um die man sich kümmern muss, ganz, ganz viele sind. Und wir werden nicht alles gleichzeitig machen."
Wir erzählen ihm von den Betroffenen. Von Eva Winter und von ihrem dringendsten Wunsch:
O-Töne
Panorama: "Ich wünschte, ich hätte jemanden, der es einfach beenden würde, der es löschen könnte. Was sagen Sie dieser Frau?"
Herbert Reul: "Sie hat recht."
Panorama: "Und wann beginnt das Löschen?"
Herbert Reul: "So schnell wie möglich."
Beitrag: Robert Bongen, Lisa Hagen, Daniel Moßbrucker, Tobias Hübers
Kamera: Henning Wirtz, Lisa Hagen, David Diwiak
Schnitt: Jann Littelmann, Piet Lorenzen
Abmoderation Anja Reschke: "Wie meine Kollegen es in monatelanger Arbeit geschafft haben, die Aufnahmen aufzuspüren, die Abwehrversuche der Pädokriminellen zu umgehen und damit vielen Pädo Foren ein Ende zu setzen, können Sie unter panorama.de nachlesen und dort finden sie auch die spannende Reportage von Strg-F."