Stand: 29.02.2024 21:45 Uhr

Schuldig im Sinne des Vorurteils? (Manuskript)

Panorama v. 29.02.2024

Anmoderation Anja Reschke: "Vielleicht haben Sie gerade eben hier im Ersten den Masuren Krimi gesehen. Da wird ermittelt, in alle Richtungen, da wird gezweifelt, da werden Beweise gesucht. Und am Ende wird die Mörderin gefunden. Wir erleben also, wie bei den meisten Fernsehkrimis, was engagierte, gute Kriminalarbeit ist. Bei uns geht es jetzt auch um einen Mord. Einen realen. Ein Mann wurde getötet. In seiner Wohnung. Man sieht am Tatort, er wurde gefesselt, geschlagen, die Wohnung verwüstet, es ging brutal zu. Wer war es? Der Mann war Gastronom, ging es um Schutzgelderpressung oder Konkurrenz im Gastrogewerbe? Wurde ermittelt, in alle Richtungen, gezweifelt, Beweise gesucht? Offenbar nicht. Denn da gab es eine zu bequeme Verdächtige. Tina Soliman hat diesen skandalösen Fall recherchiert."

Yulady Lasso stammt aus Kolumbien. Seit zweieinhalb Jahren lebt sie in Hamburg, arbeitet als Zimmermädchen. Ist sie eine brutale Mörderin? Oder wurde sie zum bequemen Opfer einer wenig engagierten Justiz? Aus einem Armenviertel in Kolumbien ist die 38jährige mit einem Besuchervisum nach Hamburg gekommen, um ihren Töchtern zuhause in Kolumbien eine bessere Ausbildung zu finanzieren. Auf der Suche nach Arbeit in einem Hotel oder Restaurant stößt sie auf die Anzeige von Benito Longo. Sie verabreden sich.

O-Ton Yulady Lasso: ".. und dann fragte er mich, wie lange ich in Deutschland bin. Dann habe ich gesagt, acht Monate. Dann hat er gesagt: Ah, dann hast Du keine Papiere!  Dann kannst Du auch nicht im Restaurant arbeiten. Aber damit du deinen Tag jetzt nicht verlierst, kannst Du meine Hemden bügeln. Ich bezahle Dich. Ich habe mir nichts dabei gedacht und das war's.."     

Nicht ganz. Denn dieser Tag wird ihr Leben verändern. Fünf Tage nach dem Treffen: Es ist der 12. Mai 2022. An diesem Tag versucht Benitos Familie ihn immer wieder zu erreichen. Doch er reagiert nicht. Gegen 17 Uhr schickt Nichte Yolanda ihren Bruder zur Wohnung des Onkels.

O-Ton: Yolanda Longo: "Mein Bruder ist reingegangen und hat ihn auf dem Bett gefunden, hat seinen Namen gerufen, hat gesagt: Benito Benito. Dann hat mein Bruder den Notruf angerufen und hat gesagt, irgendwas ist hier los. Mein Onkel bewegt sich nicht. Er liegt auf dem Bett.  Es sieht hier aus, als hätte jemand irgendwas gesucht. Dementsprechend hat die von der Notrufzentrale gesagt: Okay, wir schicken auch die Polizei. Und dann konnten sie halt nur den Tod feststellen."          

Benito Longo starb offenbar keines natürlichen Todes. Er war zuvor gefesselt und massiv misshandelt worden. Im Polizeibericht ist von: "Blut am rechten Ohr" die Rede - was auf einen Schädelbasisbruch hindeutet. Und man findet: "Fesselmarken an den Knöcheln". Bei der Obduktion werden weitere schwere Verletzungen festgestellt sowie mehrfache Rippenfrakturen.

O-Ton: Sabine Marx, Opfer-Anwältin: "Wenn man sich vorstellt, es ist von 6 bis zur zehnten Rippe, sind die Rippen teilweise zweimal gebrochen gewesen. Einmal, zweimal bis in die Leber rein gestoßen. Hier sind die Knorpel gebrochen im Halsbereich. Also das ist schon brutal."

Fast schon mafiös, so die Anwältin der Tochter des Mordopfers. Wie Benito Longo starb, weise auf das Organisierte Verbrechen hin. Über Jahrzehnte war Longo Gastronom aus Leidenschaft, führte drei Tapas-Bars, musste aber zwei Jahre vor seinem Tod Insolvenz anmelden. Seitdem half der 69-Jährige Bekannten in deren Restaurant. Und: In dem Restaurant, in dem Benito Longo aushalf, soll es am Vorabend der Tat Streit gegeben haben. Auch äußerte er einer Freundin gegenüber, dass er Angst habe. Doch die Ermittler folgen einer anderen Spur. Auf dem Handy des Opfers finden sie den Chat mit Yulady Lasso. Sie wird vernommen, gibt freiwillig eine Speichelprobe ab. Und tatsächlich wurde ihre DNA am Tatort und auch am Ermordeten gefunden. Es muss also Yulady Lasso gewesen sein, glauben die Ermittler - die kolumbianische Putzhilfe, ohne Aufenthaltsstatus - am Tattag im neunten Monat schwanger. Yulady Lasso wird festgenommen. Ihr Sohn Mathias ist mittlerweile ein halbes Jahr alt. Es ist Nacht, als es plötzlich an ihrer Tür klingelt:

O-Ton Yulady Lasso: "Wir schliefen, als die Polizei kam. Und als sie mir dann sagten, dass ich verdächtigt werde, eine Person umgebracht zu haben, da bin ich fast in Ohnmacht gefallen, alle Kräfte haben mich verlassen. Und dann habe ich auch gleich gefragt: Und was wird aus meinem Kind? Und sie haben geantwortet: Kein Problem. Wir sind vorbereitet. Da sind Leute vom Jugendamt die werden das Kind mitnehmen. Das war sehr hart - als sie mir mein Kind aus dem Arm gerissen haben. Das war das Herzzerreißendste, was ich je erlebt habe."

Mathias wird erst einmal in eine Familieneinrichtung gebracht, eine Pflegemutter soll ihn dann übernehmen. Währenddessen kommt bei den Ermittlern die Frage nach dem Motiv auf: In der Anklageschrift heißt es: "Yulady Lasso - nicht vorbetraft - wird vorgeworfen: "einen Menschen aus Habgier getötet zu haben"".

O-Ton Fenna Busmann, Strafverteidigerin: "Dagegen sprach allerdings, dass die Wertgegenstände, die man in so einer Wohnung erwarten würde, noch da waren. Trotzdem wurde Habgier unterstellt, möglicherweise auch aus, ich sag mal, Begründungs-Not."

Sogar die Opfer-Anwältin hat massive Zweifel an der Raubmord-Theorie. Sie war selbst am Tatort.

O-Ton Sabine Marx, Opfer-Anwältin: "Ich habe das alles gesehen. Ja, es war durchgewühlt. Es war ein gewisses Chaos, aber es wurden Dollarscheine, ein Bündel Dollarscheine gefunden, mitten auf dem Tisch, auf dem Esstisch, nicht zu übersehen. Die Handys waren vorhanden, das Laptop war vorhanden. Es stand auf dem Balkon ein portabler Safe in einem Schrank. Auch den hätte man finden können und mitnehmen können."

Endlich kommt die Frage nach Yulady Lassos Alibi auf. Sie war zum Zeitpunkt des Mordes nicht dort, behauptet sie von Anfang an. Sie habe in diesem Hotel geputzt.  Dafür gäbe es sogar Zeugen.

O-Ton Yulady Lasso: "In der Zeit machte ich Housekeeping in einem Hotel. Am 12. habe ich von 9 bis 2/3 gearbeitet."      

Bleibt die Frage, wie eine Hochschwangere eigenhändig Benito Longo, einen kräftigen Mann, überwältigt, gefesselt und ihm mehrere Rippen gebrochen haben soll. Die Staatsanwaltschaft hat eine neue Theorie: "Es wird davon ausgegangen, dass die Beschuldigte Lasso einen möglichen zweiten noch unbekannten Mittäter (…) hinzugezogen hat."  (Anklageschrift, Staatsanwaltschaft vom 24.4.2023)

O-Ton Fenna Busmann, Strafverteidigerin: "Die Staatsanwaltschaft hat einen unbekannten Mittäter, man muss wirklich sagen: erfunden. Es gibt keinen leisesten Anhaltspunkt dafür in der Akte zu finden, dass da irgendeine weitere Person oder irgendwie eine Anzahl von Personen agiert haben könnten. Es gab einfach keine Kenntnis dazu, was in dieser Wohnung passiert ist. Und deswegen muss man sagen, eigentlich war es eine Erfindung."

Denn objektive Beweise gibt es dafür nicht. Trotzdem bleibt Yulady Lasso aufgrund dieser neuen Hypothese in Haft. Die Staatsanwaltschaft sieht weiterhin eine: "Erdrückende Spurenlage" (Anklageschrift Staatsanwaltschaft 5.12.2022). Gemeint sind die DNA-Spuren. Das Argument, dass sie schon bei Yulady Lassos Aufenthalt fünf Tage zuvor entstanden sein könnten, überzeugt die Jusitz nicht. Die Haftrichterin erklärt: "Dass die Spuren nicht anlässlich der Tötung des Verstorbenen am 12.05.22 dorthin gelangt sind, sondern bereits am 07.05.2022 (…) ist (….) sehr fernliegend."       

O-Ton Fenna Busmann, Strafverteidigerin: "Punkt. Kein Zitat. Kein Hinweis darauf, woher die Haftrichterin dieses Wissen nimmt, dass das so stimmt."

Mutter und Baby bleiben also getrennt, obwohl es in der JVA Billwerder sogar vier freie Mutter-Kind-Zellen gibt, mit Kinderbett und Wickeltisch. Keiner dieser Haftplätze war belegt. Aber: Man habe dafür kein Fachpersonal erklärt uns die JVA. Und auch Haftrichterin und Jugendamt lehnen eine gemeinsame Unterbringung von Mutter und Kind ab. Und das Jugendamt ist gar der Ansicht, es sei für das Kind vielleicht besser, seine eigene Mutter erst mal nicht mehr zu sehen. Denn: "Es ist im Bereich des Möglichen, dass die Kindesmutter evtl. auch einige Jahre in Haft verbleiben muss." (Jugendamt)

O-Ton Ilka Quirling, Familienanwältin: "Das schwang immer mit, dass, wenn die Mutter lebenslang in Haft bleibt, dann müsste schon eine Entwöhnung von der Mutter anfangen. Das war die ganze Zeit, spielte das mit. Unschuldsvermutung war ausgehebelt."

Kindesentzug - für die Mutter eine Strafe obwohl sie noch gar nicht verurteilt ist. Und die Begründungen dafür - ein Teufelskreis.

O-Ton: Fenna Busmann, Strafverteidigerin: "Und zwar wurde ihr das Sorgerecht vom Familiengericht entzogen mit der Begründung, dass sie die elterliche Sorge nicht ausüben könne, weil sie ja in Untersuchungshaft sei. Die JVA griff das auf, dass sie das Sorgerecht nicht mehr innehatte und lehnte die Anträge der Verteidigung unter anderem dann mit der Begründung ab, dass sie das Sorgerecht ja nicht innehabe und deswegen könne sie nicht bestimmen, wo das Kind sich aufhalte. Und das ist natürlich ein auswegloses argumentatives Karussell."

Für Mathias ist seine Mutter plötzlich verschwunden. In der Pflege geht es ihm zunehmend schlechter. Er schlägt seinen Kopf gegen die Gitter des Bettes, isst nicht, spielt nicht. Selbst das Jugendamt stellt fest: Mathias wirke traumatisiert. Entspricht das dem Kindeswohl? Das Oberlandesgericht setzt schließlich einen Gutachter ein.

O-Ton Ilka Quirling, Familienanwältin: "Der guckt, ob Yulady Lasso erziehungsfähig ist. Der hat festgestellt: sie ist es. Und hat gesagt, das Kind muss die Mutter dreimal die Woche mindestens sehen. Eigentlich müsste das Kind in Haft sein."

Nach dem Ergebnis des Gutachters darf Yulady Lasso ihr Kind zum ersten Mal seit drei Monaten wieder sehen. Kaum ist er bei ihr im Gefängnis, schläft er auf ihrem Schoß ein.

O-Ton Yulady Lasso: "Das Kind brauchte einfach nur Zuneigung. Und dann hörte er auch auf, sich zu verletzen."   

Ein weiterer Hoffnungsschimmer für Yulady Lasso: eineinhalb Monate nach der Verhaftung wird ihr Alibi bestätigt. Eine Zeugin sagt aus, dass Lasso am Tattag hier in diesem Hotel von 9 bis etwa 14:00 Uhr geputzt hat.

O-Töne Panorama: "Aber hätte dann nicht eigentlich, als es die Zeugin dann gab und damit auch das Alibi, Yulady Lasso sofort entlassen werden müssen aus dem Gefängnis? War das überhaupt rechtens, dass sie so lange in U-Haft saß?"

Fenna Busmann, Strafverteidigerin: "Also das ist da, wo ich sag mal der Justizirrtum, Skandal angefangen hat spätestens - also allerspätestens zu diesem Zeitpunkt. Es ist ein Vernehmungsprotokoll geschrieben worden, über 40 Seiten. Und diese Zeugin hat das bestätigt. Sie hat die WhatsApp Chats gezeigt, die sie geschrieben hat mit unserer Mandantin am Tattag, aus denen ganz klar hervorgeht, dass die beiden an einem Ort gewesen sind und dort zusammengearbeitet haben."

Yulady Lassos Alibi ist also bestätigt. Das Vernehmungsprotokoll liegt der Justiz kurz nach der Aussage vor. Doch das wird wider Erwarten nicht zum Wendepunkt. Denn die Haftrichterin stufte das Alibi kurzerhand als "fragil" ein: "da sie sich durchaus vor Arbeitsbeginn…in der Wohnung aufgehalten und das Opfer getötet haben könnte." (Beschluss: Amtsgericht Hamburg)

Haben könnte? Wurden hier Wahrscheinlichkeiten bemüht, weil sonst die schöne Tätertheorie hakte?

O-Ton Fenna Busmann, Strafverteidigerin: "Zu dem Zeitpunkt war in der Akte eine Stellungnahme des Instituts für Rechtsmedizin, aus der sich ergab, dass der Todeseintritts-Zeitpunkt am Tattag zwischen 14 und 17:00 Uhr lag. Die Haftrichterin sagt vor 9:00 morgens, also ein halber Tag früher. Zusätzlich gab es auch schon in der Akte zu dem Zeitpunkt, der Haftrichterin dann deswegen natürlich auch bekannt zu dem Zeitpunkt, einen Audiomitschnitt eines Notrufs, der abgesetzt worden ist von dem Handy des Getöteten. 

Audiomitschnitt: "Sie haben den Notruf der Feuerwehr Hamburg gewählt."   

Der Notruf ging um 11.17 Uhr bei der automatischen Notruf-Hotline ein. Im Mitschnitt hört man einen Hilferuf. Auch der letzte Kontakt zwischen Benito Longo und seiner Nichte beweist, dass er nach 09:00 Uhr noch am Leben war. Denn um 09:51 Uhr erhielt seine Nichte noch eine Nachricht ihres Onkels. Zu diesen eklatanten Widersprüchen kein Kommentar der Haftrichterin. Der Gerichtsprecher wagt einen Versuch.

O-Töne Panorama: "Wurde hier etwas konstruiert, was nicht sein konnte, weil: den Chatverlauf und die Alibi-Aussage gab es."

O-Ton Dr. Kai Wantzen, Gerichtssprecher Hanseatisches Oberlandesgericht: "Die Aussage der Alibi-Zeugin gab es im Ermittlungsverfahren, und wie immer ist dann geprüft worden, ob man die Angaben mit anderen Beweismitteln noch verifizieren kann. Insgesamt ist hier in der Verdachtsbeurteilung es so gewesen, dass der dringende Tatverdacht maßgeblich gespeist wurde durch die Spurenlage, und dann wäre das Alibi eben nicht richtig gewesen."      

O-Ton Fenna Busmann, Strafverteidigerin: "Ich bin mir relativ sicher gewesen, dass die Fehlinterpretation vom DNA-Befund der Grund dafür war, dass man versucht hat als Justiz, sich so argumentativ quasi zu verbiegen, dass das irgendwie noch passte zu diesem DANN-Befund. Weil man ihn falsch interpretiert hat, und man wollte alles andere passend machen."

Nach sechs Monaten im Gefängnis kommt es endlich zur Hauptverhandlung. Die Alibi-Zeugin wird noch einmal befragt. Sie bestätigt erneut, dass Yulady Lasso zum Tatzeitpunkt im Hotel geputzt hat.

Und die Überraschung: die Justiz glaubt ihr plötzlich. Ihre Aussage sei der "Gamechanger", so formuliert es der Richter - später - bei der Urteilsverkündung. Das Alibi sei "wasserdicht". Yulady Lasso saß 217 Tage unschuldig in Haft - ohne ihr Kind.

O-Töne Kai Wantzen, Gerichtssprecher Hanseatischen Oberlandesgericht: "In der Hauptverhandlung hat sich herausgestellt, dass die Angaben zum Alibi der Angeklagten: "Sie war zum Zeitpunkt der Tat in einem Hotel zum Arbeiten" belastbar sind und deshalb steht fest, dass sie nicht die Täterin hier ist. Dementsprechend ist sie von dem Vorwurf freigesprochen worden."

Panorama: "Die Spurenlage ist ja nach wie vor die Gleiche: was hat sich denn jetzt verändert? Jetzt ist auf einmal doch das Alibi der "Gamechanger", sagte der Richter."

Kai Wantzen: "Die Angaben der Alibi-Zeugin sind hier der Umstand gewesen, der die Wende hier gebracht hat."

Panorama: "Also war die Zeugin am Anfang unglaubwürdig - oder das Alibi - und jetzt ist es auf einmal nicht mehr unglaubwürdig?"

Kai Wantzen: "Entscheidend ist, in der Hauptverhandlung ist am Ende der persönliche Eindruck, den das Gericht und alle Beteiligten von der Zeugin haben. Und dass dann eben auch Ungereimtheiten und Zweifelsfragen geklärt werden können. Hier ist in der Urteilsbegründung betont worden, dass die Angeklagte für alle diese Fragen und Zweifel auch eine vernünftige, plausible Antwort hatte und das hat hier am Ende zu einer geänderten Beurteilung geführt."         

O-Ton Fenna Busmann, Strafverteidigerin: "Es ist ein Versagen der Strafverfolgungsbehörden. Und das hat angedauert bis zum Beginn dieser Hauptverhandlung."

O-Töne Panorama: "Gibt es Ihrer Meinung nach Versäumnisse bei der Ermittlungsarbeit seitens der Staatsanwaltschaft?"

Kai Wantzen, Gerichtssprecher Hanseatisches Oberlandesgericht: "Hier hat sich, wenn es denn rechtskräftig wird das Urteil, eine Person über Monate unschuldig in Untersuchungshaft befunden. Das kommt vor, ist aber natürlich eine menschliche und emotionale Katastrophe."

Panorama: "Eine Katastrophe oder ein schuldhafter Fehler?"

Kai Wantzen: "Meine Aufgabe ist es nicht, irgendwelche Beurteilungen anzustellen. Das Gericht muss ja mit dem klarkommen, was es vorfindet, und nach Aktenlage, auch das ist heute betont worden, waren die Anhaltspunkte für das Alibi nicht so belastend im Verhältnis zu allen anderen Beweismitteln, dass man hier hätte, anders vorgehen können."         

Inzwischen ist der Freispruch rechtskräftig. Doch Justiz und Behörden zeigen wenig Schuldbewusstsein. Das Jugendamt steht für ein Interview nicht zur Verfügung. Auch schriftlich - keine Erklärung. Kein Bedauern. Lassos Verteidigerinnen vermuten hinter diesem Justizskandal mindestens Bequemlichkeit:

O-Töne Fenna Busmann, Strafverteidigerin: "Ich vermute, dass es einen Unwillen gab, sich intensiv damit zu befassen. Einmal, weil es viel Arbeit bedeutet. Und einmal, weil man vielleicht auch dachte, dass man es nicht ganz so genau nehmen muss."

Panorama: " Wenn eine Kolumbianerin einen Mord begeht?"

Fenna Busmann: "Ja…also das Thema Rassismus. Das ist auf jeden Fall ein Thema, was unsere Mandantin getroffen hat."    

Nachfrage: Rassismus bei der Hamburger Justiz? Das Gericht weist diesen Vorwurf entschieden zurück. "…der Vorwurf, (…) Richterinnen und Richter seien gegenüber der Verdächtigen persönlich oder "strukturell" (…) voreingenommen gewesen (…) entbehrt jeder Grundlage." (Hanseatisches Oberlandesgericht)

Die lange Freiheitsstrafe wurde durch den Freispruch abgewendet. Aber die Konsequenzen für Mutter und Kind währen lebenslang. Mathias hat sich von der Unruhe in seinem ersten Lebensjahr noch nicht erholt.

O-Ton Yulady Lasso: "Matthias ist traumatisiert. Er hat auch eine Diagnose: Hospitalismus. Er ist in Therapie…das kann Jahre dauern. Und er bekommt auch Medikamente, um sich etwas zu beruhigen."          

Und Yulady Lasso? Sie kämpft mit Depressionen. Eine Mordanklage wiegt schwer und 217 Tage im Gefängnis vergisst man nicht so schnell.

O-Töne Yulady Lasso: "Das ist eine ganz gravierende Anklage: Ein Mord! Das kann man nicht von einen auf den anderen Tag verdauen. Das braucht Zeit."

O-Ton Yolanda Longo, Nichte des Getöteten: "Im ersten Augenblick haben wir nur gedacht: Mensch, da läuft der Täter immer noch frei rum. Aber recht schnell hat sich herausgestellt, naja, uns tut es leid für Yulady. Sie hat ja mit auch verloren.  Wir haben eine geliebte Person verloren, aber sie hat sieben Lebensmonate verloren. Wir fühlen halt mit ihr. Und wir finden das nicht gerechtfertigt für sie, dass das passiert ist."

Eine traumatisierte Mutter und ihr Kind. Angehörige, die Klarheit brauchen, um abzuschließen. Ein Täter, der frei herumläuft. Kein Ruhmesblatt für die Hamburger Justiz.

Bericht: Tina Soliman
Kamera: Torsten Lapp
Schnitt: Claudia Qualmann

Abmoderation Anja Reschke: "Wir hatten viele Fragen, an die Hamburger Mordkommission, die Staatsanwaltschaft. Wieso wurde so einseitig ermittelt, andere Spuren nicht richtig verfolgt? Aber wir bekamen kein Interview. Laufende Ermittlungen hieß es. Klar, denn der wirkliche Mörder von Benito Longo ist nicht gefasst. Und fast zwei Jahre nach dem Mord, ist es mit der Spurensuche natürlich nicht mehr so einfach."

 

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 29.02.2024 | 21:45 Uhr

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