Rammstein - viel Aufregung um nichts?
Im vergangenen Sommer hatten mehrere Frauen dem Rammstein-Sänger Till Lindemann Machtmissbrauch und mutmaßliche sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Fast ein Jahr später sind alle Ermittlungen eingestellt. Was bleibt von den moralischen Vorwürfen?
Es ist ein kühler Tag im Februar an der Steilküste Nordirlands. Shelby Lynn, langer Mantel, schwarz geschminkte Augen und orange-rote Haare, lebt in einer Kleinstadt ganz in der Nähe. Vor fast einem Jahr schilderte die inzwischen 25-Jährige in den sozialen Medien, wie sie ohne ihr Wissen für Sex mit Lindemann gecastet worden sei. In einer Konzertpause habe sie ein Vertrauter Lindemanns unter die Bühne geführt, dort habe Lindemann mit ihr Sex haben wollen. Wenig später hat sie den Verdacht, bei dem Konzert - von wem auch immer - unter Drogen gesetzt worden zu sein. Darüber schreibt sie im Anschluss auf Twitter. Belegen kann sie den Vorwurf nicht, Rammstein streitet damals alle im Netz kursierenden Vorwürfe ab.
Lynn löst mit ihren Tweets eine monatelange Diskussion aus. Seitdem, sagt sie NDR-Reporterinnen und -Reportern bei einem Besuch in ihrem Heimatort bei Belfast, habe sich ihr Leben komplett verändert. Inzwischen habe sie Hunderte Screenshots zu Rammstein auf dem Handy, darunter detaillierte Nachrichten von Frauen, die ihre Erfahrungen schildern genauso wie Beschimpfungen und Morddrohungen von aggressiven Rammstein-Fans. Lynn erzählt, dass sie über Monate viel Zeit im Bett verbracht habe, weinend, mit depressiven Phasen.
"Wenn sich mein Handy meldet, dann weiß ich nicht, ob es meine Mama ist, die mich fragt, was ich zum Abendessen möchte, oder eine weitere Frau, die mir einen mutmaßlichen Übergriff beschreibt", sagt Shelby Lynn. "Es hört einfach niemals auf." Trotzdem habe sie sich verpflichtet gefühlt weiterzumachen. Sie ist überzeugt, dass ansonsten verschiedene Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Lindemann bis heute nicht öffentlich geworden wären.
Wenige Tage nach Lynns ersten Schilderungen berichteten NDR und SZ über weitere Vorwürfe gegen Lindemann. Junge Frauen wurden den Recherchen zufolge offenbar systematisch vor Konzerten rekrutiert und Lindemann für Sex zugeführt. Zwei Frauen gaben zudem an, vor den sexuellen Handlungen mit Lindemann zwar kein Nein kommuniziert und sich währenddessen auch nicht gewehrt zu haben, den Sex später aber als übergriffig empfunden zu haben.
Lindemanns Anwalt sagt auf Anfrage des NDR, dass sexuelle Handlungen am Rande von Konzerten immer einvernehmlich gewesen seien und dass keine der Frauen in ihrer Willensbildung beeinträchtigt gewesen sei.
Das Strafrecht und die Moral
Die Staatsanwaltschaft Berlin leitete im Juni 2023 ein Ermittlungsverfahren gegen Till Lindemann und eine Vertraute ein - unter anderem wegen des Verdachts der Begehung von Sexualdelikten. Doch nach gut zwei Monaten wurde das Verfahren wieder eingestellt, auch, weil sich keine mutmaßlich Betroffenen bei der Behörde gemeldet hatten. Viele deuteten die Einstellung damals als eine Art Freispruch für Lindemann. Ist deshalb das Verhalten Lindemanns auch moralisch unproblematisch?
Bis heute wehrt sich der Rammstein-Sänger juristisch gegen die mediale Berichterstattung, unter anderem von NDR und SZ, teilweise mit Erfolg. Der Kern der Berichterstattung blieb jedoch stets unangetastet: das Sex-Casting rund um die "Row Zero" und der Verdacht des Machtmissbrauchs.
Die Diskussion über Fehlverhalten mächtiger Personen sei häufig beendet, sobald strafrechtliche Ermittlungen eingestellt werden, beobachtet Simone Kämpfer, Strafverteidigerin bei der Großkanzlei Freshfields und ehemalige Staatsanwältin. Für Unternehmen untersucht sie Fälle von Machtmissbrauch und Vorwürfe sexualisierter Gewalt. Für sie liegt diese fehlende Diskussion auch an zu wenig Differenzierung in den Medien. "In der Berichterstattung zu MeToo wird häufig nicht klar genug getrennt zwischen der Frage, was strafrechtlich vorwerfbar ist und was man moralisch diskutieren könnte", sagt Kämpfer dem NDR. "Da werden viele Begriffe auch vermischt, sie ähneln sich. Machtmissbrauch klingt so ein bisschen ähnlich wie sexueller Missbrauch. Grenzüberschreitung klingt sehr strafbar." Wenn Frauen jedoch den Vorwurf des Machtmissbrauchs erheben würden, dann gehöre dieser nicht vor das Strafgericht.
Sebastian Büchner, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Berlin, betont im Gespräch mit dem NDR, dass die Hürden für Frauen, sich den Ermittlern zu offenbaren, grundsätzlich sehr hoch seien. "Und ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, dass diese Hürde durch die mediale Begleitung einfach noch mal sehr viel höher gelegt wurde." Nur weil etwas strafrechtlich nicht relevant sei, sagt Büchner, könne es trotzdem gesellschaftlich relevant sein.
Reporterinnen des NDR ist es in den vergangenen Wochen gelungen, mit rund 20 Frauen aus der "Row Zero" über ihre Erfahrungen im Umfeld von Konzerten und auch über die Rekrutierung zu sprechen. Manche berichten von angenehmen, tollen Partys, andere beschreiben ein aus ihrer Sicht fragwürdiges System. Elnara Nuriiva war auf mehreren Aftershowpartys als Fan. Sie hat das Rekrutierungssystem beobachtet. Für ein Konzert bittet Alena Makeeva sie um Hilfe, um Frauen auf die Bühne als Tänzerinnen und danach zur Aftershowparty zu bringen. Damals habe sie nicht gewusst, worum es genau gehen sollte, sagt sie. Als sie das dann verstanden habe, habe sie sich davon distanziert. Sie kenne Frauen, die Till Lindemann unbedingt treffen wollten. Aber es habe eben auch solche gegeben, die nicht gewusst hätten, worauf sie sich einließen. "Das ist Missbrauch. Missbrauch der echten Gefühle von Mädchen, die ihr Idol sehen wollen."
Wo beginnt der Machtmissbrauch?
Lindemanns Anwalt Simon Bergmann sagt im Gespräch mit dem NDR, dass er das Rekrutierungssystem moralisch nicht begrüße. Den Vorwurf des Machtmissbrauch bezeichnet er als Trick, mit dem man begründen wolle, Till Lindemann irgendetwas vorzuwerfen, auch wenn der Sex einvernehmlich gewesen sei.
Cynthia A., eine der beiden Frauen, die Till Lindemann im vergangenen Sommer in der Berichterstattung von NDR und SZ einen mutmaßlichen sexuellen Übergriff vorwarfen, bezeichnet die Begegnung mit dem Rammstein-Sänger heute als genau das: als Machtmissbrauch, der jedoch "viel komplizierter ist als eine einfache Straftat." Es habe sie deshalb geärgert, dass diese Schilderungen für viele Leute nicht ausreichend genug gewesen seien, "um das moralisch verwerflich zu finden".
Trotz Äußerungen wie dieser sind die Vorwürfe gegen Till Lindemann noch immer vor allem mit einem Gesicht verbunden: dem von Shelby Lynn. Denn sie ist eine der wenigen Frauen, die sich offen vor Kameras von Fotografen und Reporterinnen zeigt. Sie hofft, dass sich noch mehr mutmaßliche Betroffene und Zeugen trauen, öffentlich ihre Stimme zu erheben. Für sich selbst wünscht sie sich, dass die öffentliche Aufmerksamkeit möglichst bald wieder nachlässt. "Vielleicht in ein, zwei Jahren werde ich mich davon erholt haben", sagt Lynn im Interview, nur um dann zu korrigieren: "Aber ich denke, ein bisschen wird immer bleiben. Ich kann nur lernen, besser damit umzugehen."
Die Band Rammstein startet im Mai ihre Europa-Tournee. Die meisten Konzerte sind bereits ausverkauft.
Wir recherchieren weiter zum Thema. Für Tipps und Hinweise erreichen Sie das Ressort Investigation des Norddeutschen Rundfunks auf folgenden Wegen: